Umwege zu W.W.

Gedanken zur Ausstellung Walter Weißes „Figur – Landschaft – Landschaftsfigur“
Freyburg – Unstrut am 21. März 1999

Leicht überarbeitete Fassung der Rede, Leipzig, den 11.05.2012, veröffentlicht in: „Maler kleiner Bilder“, Katalogbuch der Naumburger Ausstellung zum 90.Geburtstag Walter Weißes, 2013, S.15-18

In diesem Kreis und am Ort seines lebenslangen Wirkens muß Walter Weiße sicher nicht näher vorgestellt werden. Schließlich haben er und sein Werk auch hier in seiner Geburtsstadt endlich die verdiente Anerkennung gefunden, nachdem – lange vorher schon – der Maler Walter Weiße weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt geworden war.
Dennoch sind ein paar Worte der Würdigung zur Eröffnung dieser Personalausstellung angebracht, obwohl man sich immer wieder zweifelnd fragt, was überhaupt Worte bewirken können, wo es doch um den Zugang zu Bildern geht. Dem geneigten Betrachter, vielleicht gar dem voller Skepsis und mit Vorbehalten Daherkommenden, den Blick zu öffnen für den eigenen Bildkosmos eines Malers gelingt ja doch auf diese Weise allein höchst selten. Man möchte also, selbst wenn es sich dabei um die Bitte eines engen Malerfreundes handelt, am liebsten von vornherein das Handtuch werfen.

Aber, wir wissen doch: „Die Deutschen sehen mit den Ohren!“, wie, glaube ich, John Ruskin einst sagte, und daran hat sich nach meiner Erfahrung bis heute nicht allzu viel geändert. Seien wir ehrlich: Wir warten doch lieber erst mal ab, was uns der sogenannte Fachmann zu sagen hat – autoritätsgläubig wie wir nun mal sind. Statt einfach den eigenen Augen zu trauen, verlassen wir uns auf Gebrauchsanweisungen, etwa nach dem Motto: Lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!

Und gerade im Dschungel der Zeitkunst mit ihrem babylonischen Wirrwarr uns meist unbekannter Bildsprachen fehlt uns offenbar jeglicher Algorithmus, um selbständig jene Orientierungspunkte zu finden, die sicher auf die richtige Spur zu führen versprechen. Dabei gibt es weder die richtige Strategie noch den richtigen Weg und schon gar nicht das richtige Ergebnis bei unserer Suche nach dem eigentlichen Sinn dessen, was uns an Kunst jeweils vorgestellt wird.
Richtig in Sachen Kunst ist vermutlich nur das eine, nämlich richtig hinzuschauen, d.h. unvoreingenommen, aufmerksam, geduldig und – voller Neugier für’s Unbekannte!

Das aber heißt nichts anderes, als all unsere Scheuklappen, sprich Vorurteile, tradierte Sehgewohnheiten und vorgefaßte Meinungen – so weit eben möglich - über Bord zu werfen. Leichter gesagt, als getan.
Denn unsere ästhetischen Urteile sind so sehr subjektiv geprägt, mit soviel persönlicher Lebensgeschichte emotional verbunden, daß wir oftmals gar nicht wissen, wo unsere Aversionen oder Vorlieben herrühren und vor allem, welche eingefleischten Klischeevorstellungen von Kunst daran beteiligt sind, von denen wir alle nicht ganz frei sind, übrigens Kunstwissenschaftler, ja die Künstler selber eingeschlossen

Jemand, der z.B. von Jugend an gelernt hatte, die Kunst als Abbild der äußeren Erscheinung, gewissermaßen als „Fenster zur Welt“ aufzufassen, ein Modell wie es seit der Renaissance bis weit ins 19. Jahrhundert die Kunst dominierte, dem dürfte es in aller Regel schwerfallen, in den Bildern von Walter Weiße von jener gewohnten „Perspektive“ abzusehen. Auch wird er sich, bei solcher Erwartungshaltung, nicht so ohne weiteres damit abfinden wollen, daß Weißes Figuren und Landschaften – mal mehr formelhaft verknappte Zeichen äußerer Gestalt, mal stärker impulsiver Ausdruck innerer Vorstellung und Befindlichkeit – all jene fragwürdige Geschicklichkeit vermissen lassen, die, erstaunlich genug, noch immer an Kunst bewundert wird.

Schnell wird gar Unvermögen unterstellt, wo es doch, in Kunstdingen jedenfalls, in Wahrheit um ganz andere Qualitäten geht, als um eine perfekte Wiedergabe der sichtbaren Außenwelt, die heute jeder Fotoamateur sozusagen „mit links“ zuwege bringt.

Daß andererseits „handgemachtes“ Abbilden von Erscheinungswirklichkeit in der Kunst unseres Jahrhunderts längst schon nicht mehr en vogue ist, hat sich ja mittlerweile selbst in der großen Schar der Laien herumgesprochen. Die Mißverständnisse in Sachen Kunst sind aber darum keineswegs geringer geworden, im Gegenteil:
So meint mancher halbwegs Kunstbeflissene bereits in der Eliminierung jeder Gegenständlichkeit, jeder Räumlichkeit die Insignien moderner Kunst zu erkennen, auch wenn zu denken geben müßte, daß im Grunde jeder gelernte Dekorateur schon mit einer mehr oder weniger geschickten, pardon, „schicken Flächenaufteilung“ aufwarten und dies, mit Erfolg, als Kunst verkaufen kann.

Unter solchem Vorzeichen gesehen könnten die noch immer an Figur und Landschaft erinnernden, nie als bloße „Flachstilisierung“ daherkommenden Bildgestalten Walter Weißes als nicht mehr eben „zeitgemäß“ verstanden werden.
Aber, was heißt das schon, „zeitgemäß“, in einer Zeit, wo die allmächtigen Medien lautstark das Sagen haben und den Menschen in rascher Folge mit ihren Wechselbädern beglücken und derart mit Reizüberflutungen überschwemmen, daß er nicht mehr zur Besinnung kommt.
Wie soll sich – in solch hoffnungsloser Konkurrenz – ein stilles, stummes Bild, zumal von solch bescheidenem Zuschnitt, wie die Bilder eines Walter Weiße, je bemerkbar machen und behaupten, gar zum intensiven Betrachten und Verweilen herausfordern?
Hat in der Flut bewegter Bilder, die in video-clip-Manier unentwegt auf uns einströmt, ein Bild in seiner statischen Ruhe überhaupt eine Chance, von uns noch wahrgenommen zu werden ? Mit anderen Worten: Sind also gemalte Bilder überhaupt noch zeitgemäß?

Diese Frage, die seit Immendorff’s provokanter Aufforderung: “Hört auf zu malen!“ nach fast 50 Jahren noch immer im Raum steht, wird ja, aller Objekt- und Konzeptkunst zum Trotz, von der malenden Zunft mit bockiger Renitenz und steigender Produktivität beantwortet, wenn auch der Versuch, sich mit Malerei „Gehör“ zu verschaffen, oft genug auf bloßes Blow-up von schon Dagewesenem hinausläuft. Marktschreierisch zudem gehörig aufgemotzt, vermag manches von diesen überdimensionierten Machwerken, auf den ersten Blick zumindest, Aufsehen zu erregen. Bei näherem Zuschauen wird einem dann meist klar, daß man vor dem Resultat eines mehr oder minder gelungenen Täuschungsmanövers steht, bei dem mit allerlei Versatzstücken aus dem großen Fundus der Kunstgeschichte hantiert, ja jongliert wurde.
Denn überhaupt alles und jedes, was der Mensch in seiner langen Geschichte an Kunst und Kultur zustande gebracht hat, ist heute – dank modernster Technologie – als Reproduktion zu speichern und damit potentiell jederzeit verfüg- und abrufbar. Und davon wird selbstredend hemmungslos Gebrauch gemacht, auch um den Preis seiner Aura (Walter Benjamin), die dabei zum Teufel geht.

Das ist in der Kunst nicht anders als in der Realität selbst, und sei es eine virtuelle, gar die geklonte (s. Goethes Gartenhaus). Dieter Wellershoff spricht daher zu Recht von der „Collagestruktur“ unserer Wirklichkeit, wobei „Collage als das unvermittelte Nebeneinander und Zugleich des Nichtzusammengehörigen“ definiert wird. (D.W., Die Instanzen der Abwehr oder das totale Environment, in: Ders., Wahrnehmung und Phantasie, Köln, 1987, S.39–51).

Und mit diesem Stichwort bin ich endlich, auf meinem langen Umweg, ganz bei Walter Weiße angekommen. Ich denke nämlich, daß man die Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit seiner Bildfindungen erst vor dem Hintergrund der geschilderten Kunstmodelle und Rezeptionsmuster in ihrem eigentlichen Wert und Charakter voll begreifen und schätzen kann.
Und wenn eben von Collage die Rede war, so ist damit natürlich nicht primär jenes technische Verfahren gemeint, dessen sich Walter Weiße – wie viele Künstler unseres Jahrhunderts auch – bevorzugt bedient, um seine Bildvorstellungen zu realisieren. Es geht mir vielmehr darum zu zeigen, daß Collage für ihn zu einem Prinzip seines gestalterischen Anliegens geworden zu sein scheint, ein Prinzip, das selbst da bei seinen Arbeiten spürbar ist, wo gar nichts geklebt und montiert wird, so z.B. wenn er innerhalb eines Blattes unvermittelt den Duktus, die Lage, den Rhythmus des Pinselstrichs wechselt, urplötzlich die Tonart von Moll auf Dur umschaltet, Serielles gegen Expressives stellt, abbildhafte Naturnähe gegen das verknappte Zeichen, Atmosphärisches gegen messerscharfe Klarheit, organischen Formenfluß gegen mechanisches Raster, oder wenn er elegischen Farbklang mit popiger Buntheit flankiert usw.

Wie er solche Kontraste bindet, wie er selbst noch die heterogensten Mittel (deren breite Palette hier gar nicht weiter aufgezählt werden kann und soll), in seinen Bildern unter einen Hut zu bringen versteht, will sagen zu einem Formganzen werden läßt, wie er immer wieder zu einem Gefüge von selbstverständlicher Ordnung findet und nicht beim bloßen Konglomerat landet, das allerdings bleibt sein Geheimnis.

Und an dieser Stelle will ich etwas ganz Persönliches einfügen, das vielleicht auch erklären mag, weshalb ich Walter Weiße hier gewissermaßen auf Umwegen zu erreichen versuche:
Zwar sind wir seit nunmehr über 60 Jahren Kollegen und enge Freunde, zwar hatte ich in dieser langen Zeit – trotz zum Teil konträrster Konzeption und mancherlei Wandlungen in unseren künstlerischen Auffassungen – seine Arbeiten stets geschätzt, ja bewundert, dennoch mußte ich mir kaum jemals Rechenschaft darüber geben, worin ihre Qualitäten eigentlich bestehen.

Wir haben uns ganz einfach verstanden und also gegenseitig akzeptiert – in unserer so grundverschiedenen Art: „Ich, im realistischen Stil, er, im ägyptischen“, wie mir Walter Weiße – Henri Rousseau‘ s berühmtes Diktum über sich und Picasso mit feiner Ironie auf einer Mailart-Karte von 1983 zu verstehen gab!

Erst jetzt, wo ich versuche, mir bewußt zu machen, worin die Eigenart seiner Bildwelt besteht, d.h. wo ich, um es anderen plausibel zu machen, die Wortsprache benutzen muß, entdecke ich von neuem die alte Goethe-Weisheit „Die Form ist ein Geheimnis den meisten!“

Und dieses Geheimnis der Formenwelt Walter Weißes zu entschlüsseln, kann einem keiner abnehmen. Dafür gibt es – zum Glück, möchte man sagen – kein simples, ja überhaupt kein Rezept!
Ich kann nur nochmals andeuten, worin für mich (!) dieses Geheimnis besteht: Mich fasziniert jedesmal auf`s neue, wie ihm bei aller unbändigen Experimentierlust, allem risikoreichen Erfindungsmut im Umgang mit allem, was ihm in die Hände und vor Augen kommt, immer wieder so erstaunlich dichte Bilder gelingen, Bilder, die jeweils unverkennbar den ganz bestimmten sinnlich-geistigen Habitus ihres Autors sichtbar machen.

Walter Weiße hat also, notabene, kein Markenzeichen nötig, um wiedererkannt zu werden, wie so mancher der Moderne (erinnert sei z.B. an das Ultra-Blau des Ives Klein, das Quadrat des Josef Albers oder die Nägel des Günther Uecker und v.a. m.). Nein, er gleicht darin – wenn der Vergleich erlaubt ist – etwa Paul Klee, mit dem ihn so manches, nicht zuletzt die Poesie der ins Bild integrierten Titel verbindet, oder den vielen anderen, die ebenfalls über solch breites Spektrum gestalterischer Möglichkeiten verfügen, allemal aber jenen unverwechselbaren Charakter offenbaren, der für künstlerische Qualität signifikant sein dürfte.

Ich hoffe für Sie wie für mich, daß wir diesem Formgeheimnis Walter Weißes, heute, hier in dieser schönen Werkschau ein wenig näher kommen, ohne es freilich ganz zu ergründen, und dabei – so wünschte ich – auch jene inhaltliche Dimension seiner Kunst begreifen, die uns die Welt um uns herum überraschend neu, verändert, jedenfalls mit anderen Augen sehen läßt.

Herzlichen Glückwunsch, Walter Weiße!