Bildkünstlerische Qualität

Probleme bei der Beurteilung

Teil l veröffentlicht in: Bildnerisches Volksschaffen, 1989, Heft 1, S. 26-27

Verfolgt man das aktuelle Geschehen in unserer öffentlichen Kunstdiskussion, so taucht seit geraumer Zeit immer wieder und auffallend häufig im Zusammenhang mit Forderungen bzw. Wertungen der Kunstkritik der Begriff Qualität auf, meist ohne daß er näher definiert wird. Man könnte daher annehmen, es sei allgemein klar, worum es sich handelt, wenn von künstlerischer Qualität die Rede ist. Dies ist jedoch – wie später noch zu zeigen sein wird – selbst unter Fachleuten, die sich von Berufs wegen mit Kunst befassen, höchst selten der Fall. Spätestens bei der Zuordnung konkreter Beispiele zu dem, was jeweils für qualitätvoll oder qualitätlos gehalten wird, merkt man, wie sehr doch die Meinungen und Vorstellungen von künstlerischer Qualität divergieren können. Das Fehlen expliziter Bestimmungen des künstlerischen Qualitätsbegriffes mag im übrigen freilich auch ein Indiz dafür sein, daß man sich häufig scheut oder gar außerstande sieht, für Kunst generell gültige Qualitätskriterien aufzustellen, was nichts anderes als möglicherweise das Eingeständnis bedeutet, sich bei seinem jeweiligen konkreten Kunsturteil auf keinerlei objektive Grundlage beziehen zu können.

Auch wenn Definitionen, vor allem wenn sie kurz sind, – nach Engels und Lenin – von recht begrenztem Wert sind, halten wires daher für unabdingbar, sich schon um eine begriffliche Bestimmung dessen zu bemühen, was man für Qualität in der Kunst hält, zumal wenn man gewisse Ansprüche an ein bestimmtes Maß an Objektivität seines Qualitäts- bzw. Werturteils anmeldet. Erinnert sei hier nur an die Kontroverse zwischen Ina Gille und Peter Pachnicke.(1) Dieses Beispiel signalisiert m. E., daß es um die Objektivität solcher Urteile über Kunst nicht eben zum besten steht. Ina Gille trifft dieses Problem sehr genau, wenn sie in diesem interessanten Meinungsstreit prononciert auf entsprechende Gedanken Franz Fühmanns verweist, der von der Existenz objektiver Qualitätskriterien in der Literatur ausgeht.(2)Auch manch andere Kunstwissenschaftler sind sich dieses Problems mehr oder weniger bewußt. So beschäftigt es auch den renommierten Kunstkritiker und – Publizisten Lothar Lang: „Ein Kritiker, der nicht weiß, was künstlerisch mindere Qualität ist, hat seinen Beruf verfehlt", hören wir von ihm(3) und werden dabei gleichzeitig herausgefordert, über entsprechende Ansprüche an einen anderen, verwandten Berufsstand nachzudenken. Wie verhält es sich denn bei all denen, die ein künstlerisches Lehramt ausüben? Müssen nicht auch sie, ja gerade sie wissen, was Lang vom Kritiker fordert, wo sie doch tagtäglich mit vergleichsweise bescheidenen, unentwickelten, unausgereiften bildnerischen Leistungen zu tun und diese ja nicht nur zu beurteilen, zu bewerten, gar zu „benoten" haben, sondern vor allem Wege zeigen möchten, wie gestalterische Schwächen überwunden und höhere Qualität erreicht werden können? Wie könnte der Lehrer irgendeines künstlerischen Faches überhaupt auf etwas im Werden Befindliches positiven Einfluß nehmen und Entscheidungshilfen – im Sinne von Korrektur – geben, wenn er nicht zwischen guter und schlechter Qualität zu unterscheiden wüßte? Die Antwort liegt auf der Hand: er muß es natürlich wissen, jedenfalls wenn er nicht seine Glaubwürdigkeit und Autorität als Lehrer aufs Spiel setzen will.

Etwas anders verhält es sich mit einer weiteren Frage, die sich nun aufdrängt. Woher nimmt denn eigentlich ein Lehrer oder auch ein Kritiker bei seinem künstlerischen Werturteil die sichere Gewißheit, in bezug auf die Einschätzung solcher Qualitäten eine halbwegs richtige, das heißt nicht bloß subjektiv bestimmte, sondern auch objektiv begründete Entscheidung getroffen zu haben? Er kann ja doch nicht jedesmal auf jenes „annähernd objektive Urteil" warten, das sich – nach Lothar Lang – „erst aus der (auch historisch gezogenen) Summe qualifizierter Kritiken ergibt"(4). Oder anders gefragt: Ist dem einzelnen Lehrer oder Kritiker überhaupt ein bestimmtes Maß an Objektivität des künstlerischen Qualitätsurteils möglich? Hier können einem schon berechtigte Zweifel kommen, wenn man bedenkt, daß – wie Conrad Fiedler einmal treffend bemerkte – „dasselbe Kunstwerk von äußerster Gleichgültigkeit, ja von Widerwillen bis zur höchsten Bewunderung alle Grade des Mißfallens und Gefallens nicht nur bei verschiedenen Menschen, sondern sogar bei einem und demselben Betrachter durchlaufen kann".(5) In solchen Bedenken und Zweifeln an der Allgemeingültigkeit künstlerischer Werturteile werden wir auch durch weitere, sicher zu treffende Beobachtungen noch bestärkt, etwa durch folgende von Daucher und Seitz: „Nirgends neigen wir so sehr dazu, unsere eigenen Vorstellungen für die objektiv richtigen zu halten, als in der Rangordnung unserer Werte, und es kostet in der Regel außerordentliche Selbstüberwindung, reflektierend die Subjektivität der eigenen Wertordnung einzugestehen".(6)

Eine ganze Reihe von bürgerlichen Kunstpädagogen besonders der älteren Generation ist in dieser Frage offenbar von weit weniger Zweifeln geplagt. Jedenfalls treten z. B. Egon Kornmann und Hans Herrmann mit dem Anspruch auf, als ließen sich gute und schlechte Qualität in der bildenden Kunst ziemlich präzise und objektiv voneinander unterscheiden. Herrmann, ein führender Vertreter der Britsch-Kornmann-Theorie, ist dabei so engherzig in seinem Qualitätsverständnis, daß nicht einmal van Gogh vor ihm bestehen kann. Mit der Sicherheit des Kunstkenners bescheinigt er ihm einen „merkwürdigen Mangel an formhafter Festigkeit, eine hemmungslose Art menschlichen Ausdrucks" und wagt es schließlich, ihn in die Nähe eines „Manierismus" von der Art einer „mühe- und teilnahmslosen Kunstübung" zu rücken.

Wie man sieht, ist auch der sogenannte Fachmann nicht vor gravierendem Irrtum gefeit. Häufig ist ja eben gerade eine übermäßige Enge der künstlerischen Lehrmeinung, des Leitbildes von dem, was man für Kunst hält, an solchen Fehleinschätzungen schuld. Diese Erfahrung mußten ja auch wir machen angesichts der Auswirkungen jenes falsch verstandenen, eingeengten Realismusbegriffs der fünfziger Jahre, eines Modeils, das im wesentlichen an der Kunst des 19. Jahrhunderts mit bestimmten Vorbildern wie etwa Menzel und Leibl orientiert war und keine größeren Modifikationen zuzulassen schien. Wieviel Wertvolles, das wir heute wieder schätzen, wurde damals mit solcher Beckmessereile als formalistisch und mithin qualitätlos abgeschrieben.(7) Neuerdings beobachten wir dagegen ein diametral entgegengesetztes Extrem, die Tendenz nämlich, alles und jedes als qualitätsvoll zu akzeptieren, wenn es nur irgendwie neu (für uns jedenfalls neu) ist und dem Prinzip „Weite und Vielfalt" entspricht. „Auf keinen Fall will der Lehrer in den Ruf kommen, die 'Kunst von morgen' verhindert zu haben", wie Jürgen Weber die Situation an westlichen Kunsthochschulen charakterisiert.(8) Natürlich ist gerade bei neuartigen, ungewohnten Erscheinungen der Kunst äußerste Vorsicht des Urteils geboten. Aber das kann und darf doch wohl nicht heißen, aus diesem Grunde auf eine sachkundige Beurteilung ihrer bildnerischen Qualität ganz zuverzichten, wie das etwa Hans Giffhorn empfiehlt, indem er seitenlang Gründe aufzählt, weshalb es sinnlos sei, nach entsprechenden Kriterien zu suchen.(10)

Sicher ist es bei der Vielgestaltigkeit unserer heutigen Kunstlandschaft – mit all ihren Innovationen, aber auch manchem Eklektizismus, neben der schöpferischen Weiterentwicklung von Traditionen – sehr viel schwieriger, objektiv zwischen echter künstlerischer Qualität und bloßem Blendwerk zu unterscheiden. Dennoch oder vielmehr gerade deshalb ist es u. E. unumgänglich, darüber nachzudenken, was unter den gegebenen Bedingungen bei den verschiedenartigsten bildnerischen Leistungen die Qualität des spezifisch Bildkünstlerischen ausmacht und was als Kriterium dafür in Betracht gezogen werden sollte oder müßte. „Es gibt viele Kriterien", sagt wiederum Lothar Lang, wenn er sich auch darüber ausschweigt (aus Zeitgründen, versteht sich!)(11), welche alle eine Rolle spielen. Wir sind auch der Meinung, daß es mehrere sein müssen, mehr jedenfalls als jene drei, die wir vor längerem schon einmal zur Diskussion gestellt hatten.(l2)

Bevor wir jedoch auf solche spezifischen Qualitätskriterien etwas näher eingehen können, muß – zur Vermeidung naheliegender Mißverständnisse – noch eine dazu notwendige Voraussetzung geklärt werden: Spätestens an dieser Stelle erscheint es nämlich angebracht, sich vor Augen zu führen, daß die Begriffe Qualität und Wert zwar umgangssprachlich gern und oft sinnidentisch gebraucht werden, genaugenommen aber etwas Verschiedenes bedeuten. Denn Qualitäten sind wesentliche, bestimmende Eigenschaften von Dingen und Phänomenen der objektiven Wirklichkeit, und dieser ist bekanntermaßen „nichts Wertmäßiges immanent"(13). „Eine beliebige Erscheinung der objektiven Realität kann immer nur in bezug auf den Menschen ein Wert sein ... Der Wert ist demnach eine Bedeutungsrelation, deren objektive Konstituante die qualitativen Bestimmtheiten der Objekte und deren subjektive Konstituante – da an das Subjekt gebunden – die Bedürfnisse und Interessen der Menschen sind."(14) Da diese sich bekanntlich wandeln, und zwar bei individuellen wie bei kollektiven Subjekten, verändern sich natürlich auch die Wertmaßstäbe und Wertsysteme. Von der Existenz absoluter und ewig gültiger Werte kann also auch bei der Kunst nicht die Rede sein. Diese Erkenntnis schließt jedoch nicht aus, daß wir eine Verständigung darüber für möglich, sinnvoll und notwendig ansehen, welche grundlegenden Qualitäten aus unserer Sicht hier und heute als die Kunst konstituierenden und damit für uns allgemein auch Kunstwert repräsentierenden Qualitäten in Frage kommen.

In diesem Sinne reicht es nicht aus, sich auf die bekannten wie berechtigten gesellschaftlich relevanten Forderungen nach Parteilichkeit, Volksverbundenheit und sozialistischen Ideengehalt in der bildenden Kunst zu beschränken, allein mit ihnen als Qualitätskriterien operieren zu wollen. Denn solche wichtigen inhaltlichen Qualitäten, die im übrigen ja auch auf anderen, selbst außerkünstlerischen Gebieten geistige Leistungen auszeichnen können, also ganz offensichtlich nicht die Spezifik bildkünstlerischer Qualitäten ausmachen, werden im Grunde erst dann auch künstlerisch relevanten Wert erlangen, wann sie als integrierender Bestandteil bildkünstlerischer Inhalt-Form-Qualitäten auftreten und wirksam sind. In dieser Auffassung werden wir bestärkt durch Äußerungen anderer Wissenschaftler, wie etwa von Hermann Peters, der dazu folgendes bemerkt: „Was wir unter künstlerischer Parteilichkeit auch immer verstehen mögen, sie ist nichts wert außerhalb des künstlerischen Materials als komplexer Ausweis für Qualität. Entweder ist Parteilichkeit Teil, der diese Qualität mitträgt, oder – da vom Kunstwerk zu sprechen ist und nicht von dem, was der Künstler möglicherweise zu Haus oder anderswo weiß und denkt – schlechterdings nicht vorhanden. Jede andere Auslegung dieses Streitpunktes hat weder der Kunst noch den Streitenden je genutzt, auch nicht dem Verhältnis von Kunst und Volk. Die theoretische Sanktionierung einer zeitweiligen politischen Nutzung schwacher Bildwerke zieht – wie wir aus Erfahrung wissen – einen ungeheuren gesellschaftlichen Korrekturaufwand nach sich und wirkt nachhaltig (über Generationen hin) destruktiv auf Verständigungen der Partner im Kulturbereich ein. Deshalb noch einmal: Parteilichkeit muß ganz elementar mit allen anderen Qualitätsinsignien der Kunst verbunden sein ...(15) Dies wurde bei uns durchaus nicht immer so gesehen. Eine kritische Bemerkung Ulrich Kuhirts aus den sechziger Jahren macht das besonders deutlich: „Oft genug beschränkt sich das Kunsturteil auf schematisch-normatives Einordnen: wichtiges Thema – schlecht gemalt = gute Qualität, oder: belangloses Thema – gut gemalt = schlechte Qualität."(16)

Auf ganz ähnliche Gedanken stoßen wir auch in einem Brief Franz Fühmanns aus dem gleichen Jahr: „Wir müssen uns echte Maßstäbe künstlerischer Leistung erarbeiten."(17)

1) Gille, Ina: Verantwortung gegenüber der Form, in: Bildende Kunst, 1/1985, S. 37 f. und Pachnicke, Peter: Es gibt große Tendenzkunst! Ebd. S. 38-40.
2) Vgl. Ina Gille in: Bildende Kunst, 3/1985, S. 98.
3) Lang, Lothar: Was will, was soll, was kann die Kunstkritik? in: Bildende Kunst: 4/1979, S. 203.
4) Ebd.
5) Fiedler, Conrad: Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst (1876), in Fiedler: Schriften über Kunst, Köln 1977, S. 28. Vgl. dazu auch Franke, Herbert W.: Phänomen Kunst. Die kybernetischen Grundlagen der Ästhetik, Köln 1977, S. 186 – Kurt Hager: Beiträge zur Kulturpolitik, Berlin 1982. S. 191: Lothar Hammer: Die bildnerischpraktische Tätigkeit des Kunsterziehers und seine kunstpädagogische Praxis, in: Kunsterziehung, 7/8/1981, S. 28 f.
6) Zitiert bei Hans Giffhorn: Kritik der Kunstpädagogik. Zur gesellschaftlichen Funktion eines Schulfachs, Köln 1972, S. 46.
7) Herrmann Hans: Glanz des Wahren, München 1940, S. 26. In ähnlicher Weise geht Egon Kornmann (Bilder der Landschaft aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Zürich 1946) mit Caspar David Friedrich um. Zu dessen Bild „Klosterfriedhof im Schnee" (1810) sagt er: „Es ist nicht jene durchgestaltende Ordnung, die die Dinge von Grund auf erfaßt und zu einem Ganzen komponiert ... Es bleiben einzelne, aus Naturstudien übernommene Baume, die mehr streng zusammengestellt als durchkomponiert sind" (S. 32).
8) Bernhard Heisig in: Schumann, Henry: Ateliergespräche, Leipzig 1976, S. 121 ff.
9) Weber, Jürgen: Gestalt, Bewegung, Farbe, Berlin 1976. S. 12.
10) Vgl. Giffhorn, Hans: Kritik .... a. a. O., S. 34-52: dazu auch Otto, Gunter: Didaktik der ästhetischen Erziehung, Braunschweig 1974, S. 383 f. und S. 427 ff.
11) Lang, Lothar: Was will.... a. a. O.
12) Richter, Roland: Zum Verhältnis von Wissen und Können in der künstlerischen Tätigkeit, in: Kunsterziehung, 10/1976, S. 7-10: vgl. ders., Kriterien bildnerischer Qualität als zu vermittelnde Einsicht und Kenntnis für das Kunstverständnis, in: Kunsterziehung, 6/1987, S. 122 bis 125.
13) Kagan, Moissej: Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, Berlin 1969. S. 651.
14) Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1969, S. 1152.
15) Peters, Hermann: Über Parteilichkeit, Volksverbundenheit, Agitation und Kunst, in: Bildende Kunst, 1/1983. S. 6 f.
16) Kuhirt, Ulrich: Die Hand des Menschen – Symbol oder Ausdruck innerer Werte, in: Neues Deutschland vom 18.3.1964.
17) Fühmann, Franz: Essays. Gespräche, Aufsätze 1964-1981, Rostock 1983, S. 13.

Bildkünstlerische Qualität

Probleme bei der Beurteilung

Teil 2 veröffentlicht in: Bildnerisches Volksschaffen, 1989, Heft 2, S.61-64

Nachdem im Teil I (Heft 1/1989) die allgemeine Problemlage gekennzeichnet wurde, soll nun der Versuch unternommen werden, näher auf die Qualitätskriterien sowie entsprechende dialektische Zusammenhänge einzugehen, die bei einer möglichst objektiven Beurteilung von Werken der bildenden Kunst nach unserem Dafürhalten besondere Berücksichtigung verdienen. Zunächst soll von einem Qualitätskriterium die Rede sein, das – wie allein schon sein häufiges Auftauchen in der Fachliteratur zu bestätigen scheint, von erstrangiger Bedeutung sein muß, das sich aber offenbar nur schwer auf einen begrifflichen Nenner bringen läßt und daher fast immer in einer ganzen Reihe von Begriffskopplungen wie Einheitlichkeit, innere Geschlossenheit, Ganzheit beziehungsweise Ganzheitlichkeit u. ä. seine Bezeichnung findet. Wenn wir auch die mit solchem Begriffsapparat bezeichnete Qualität der Formgestalt in der bildenden Kunst für ein signifikantes Wesensmerkmal bildkünstlerischer Leistungen halten, dann nicht bloß deshalb, weil wir uns damit in guter Gesellschaft vieler Fachleute befinden, sondern weil es unserer eigenen langjährigen Erfahrung und Überzeugung entspricht, vergegenwärtigt man sich die beachtliche Zahl von Fachautoritäten, die dem genannten Qualitätskriterium Bedeutung beimessen, so fällt auf, daß sich viele Kunstwissenschaftler, Kunstpädagogen, Künstler und Vertreter der Ästhetik selbst bei unterschiedlichster Herkunft und Weltanschauung gerade in diesem Punkt ziemlich einig sind: Heinrich Wölfflin, Max J. Friedländer, Gustaf Britsch, Egon Kornmann, Hans Herrmann, Wilhelm Eben, Willi Baumeister, Reinhard Pfennig, Jürgen Weber, Moissej Kagan, Leonid Leonow, Karl Max Kober, Lothar Hammer, Günther Regel – um nur einige Beispiele zu nennen. Nähere und vor allem überzeugende Begründungen dafür, warum man dieses Kriterium für so bedeutsam hält, sind allerdings kaum zu finden, unseres Erachtens ist diese grundlegende Qualität der Einheitlichkeit einerseits eine jener entscheidenden Voraussetzungen für die Eigenständigkeit und „Abgehobenheit" des Kunstwerkes als eines autonomen Gebildes gegenüber der realen Umwelt und – angesichts einer „bildüberfluteten Gesellschaft"(1)

heute mehr denn je auch notwendige Vorbedingung für seine Wirksamkeit, die nachhaltige Einprägsamkeit einschließt. Andererseits ist diese Wesenseigenschaft künstlerischer Form Ergebnis und Kennzeichen eines bis ins letzte konsequent realisierten und materialisierten künstlerischästhetischen Weltverhältnisses, also einer inhaltlichen Komponente im Schaffensprozeß, oder anders gefaßt: Einheitlichkeit der künstlerischen Formgestalt ist Ausdruck einer konsequent verkörperten, überzeugend sichtbar gemachten, alle Teile der Gesamtform durchdringenden künstlerisch-poetischen Idee, also der subjektiven Seite des künstlerischen Inhalts.(2) Ganz in diesem Sinne ist wohl auch die interessante These Arnold Hausers über die „intensive Totalität" der Kunst zu verstehen.(3) Ein Mangel an Geschlossenheit und Einheitlichkeit der künstlerischen Form verweist also stets auch auf eine entsprechende Uneinheitlichkeit, Unbestimmtheit, Unentschiedenheit, Widersprüchlichkeit, Zersplitterung oder gar Zersetzung des künstlerischen Inhalts beziehungsweise kann in ganz bestimmtem Sinne einen Bruch zwischen Inhalt und Form bedeuten.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Geschlossenheit und Einheitlichkeit als Qualität der künstlerischen Form zu postulieren kann und darf jedoch nicht heißen, enge, zum Teil tradierte Vorstellungen von Harmonie und Gleichklang zugrundezulegen und zum generellen Qualitätsmaßstab für jedwede bildkünstlerische Leistung zu machen. Ebensowenig geht es an, bildnerischen Formzusammenhang im Kunstwerk aus dem Blickwinkel einst historisch bedeutsamer, inzwischen aber zur formal-ästhetischen Doktrin erstarrtes Gestaltungsprinzipien beurteilen zu wollen, sei es nun das Prinzip der „Einheit von Raum und Zeit"(4) oder das der sogenannten „heiligen Fläche?.(5) Es geht uns also hier um „kein statisches und normatives, sondern ein dialektisches Verhältnis" zwischen Teil und Ganzem, ein Verhältnis, das selbst schärfste Dissonanzen nicht ausschließen muß.(6) Es geht vielmehr um innere Folgerichtigkeit im bildnerischen Sinne, wenn man will, auch um die „Logik des Auges" (Paul Cézanne). Es geht darum, „daß auch das letzte Detail sich im Einklang mit dem Ganzen befinden muß".(7)

Ganz sicher wäre es für unsere Überlegungen völlig irrelevant, von Einheitlichkeit der Form als Kriterium für wirklich künstlerische Leistungen zu sprechen, wenn nicht die zwingende Notwendigkeit zur Differenzierung, insbesondere zwischen Figur und Grund, zur Gliederung überhaupt, immer auch die Gefahr mit sich brächte, daß Teile sich optisch von Ganzen abspalten, aus dem Gefüge herausgefallen, nicht als zu einem Organismus gehörig, sondern zufällig und austauschbar erscheinen, ja, sich so weit verselbständigen, daß dies die Einheit der Form zerstört. Moissej Kagan betont daher zu Recht: „In Werken ohne künstlerischen Wert erweist sich die Form zumeist als zufälliges und mechanisches Konglomerat der verschiedensten interpretierten Elemente, von denen keines obligatorisch ist und jedes leicht verändert oder durch ein anderes ersetzt werden kann".(8)

Solche Gefahr der Atomisierung, des Zerfalls in heterogene Einzelbestände wächst natürlich in dem Maße, wie der angestrebte Differenzierungsgrad der Formgestalt sich erhöht, und dies ist bei einer realistischen Gestaltungskonzeption, wie der unsrigen, selbstredend eher gegeben als bei bestimmten Vertretern der spätbürgerlichen Moderne, wie etwa bei Yves Klein oder Barnett Newman, deren monochrome, zum Teil überdimensionierte Farbtafeln im Grunde nur eine Neuauflage dessen repräsentieren, was Malewitsch schon 1913 mit seinem „Weißen Rechteck auf weißen Grund" oder mit seinem „Schwarzen Quadrat" zu realisieren suchte. Was kann da eigentlich noch uneinheitlich werden?

Wenn von einem „aller Kunst eigenen Streben nach Organisation und Ordnung aller Bildelemente zu einem in sich geschlossenen, einheitlichen Ganzen" gesprochen werden kann, wie dies Regel(9) tut und mit ihm manch andere Autoren, so liegt es nahe, in einer bildnerisch überzeugenden Realisierung solcher Ordnungstendenz auch eines jener untrüglichen Kennzeichen für bildkünstlerische Qualität zu sehen. Obwohl selten ausdrücklich als Qualitätskriterium benannt, so finden sich doch in der unübersehbaren kunsttheoretischen wie kunstpädagogischen Literatur genügende Hinweise darauf, daß man allgemein vom Geordnetsein (Gebaut- beziehungsweise Komponiertsein ist sicher auch als Synonym dafür zu nehmen) als einer unverzichtbaren Grundqualität bildkünstlerischer Werke ausgeht. So richtig diese Annahme zunächst auch sein mag, so wenig hilft sie allein in ihrer Allgemeinheit uns hier weiter. Denn erstens wäre festzuhalten, daß wohl kein Bereich im zwischenmenschlichen Kommunikationsprozeß ohne eine bestimmte Ordnung der jeweiligen Informationsstrukturen auskommt, daß sich folglich jede geistige Leistung mit an solchem Qualitätsmaßstab messen lassen muß. Dabei dürfte schließlich zum zweiten kaum zu übersehen sein, daß der Ordnungsbegriff selbst offenkundig höchst unterschiedlich interpretiert und angebracht werden kann, je nachdem welche konkrete Bezugsebene gemeint ist, welche Inhalte und Funktionen, welches Bedingungsgefüge innerhalb eines Informationssystems relevant sind. Der Ordnungsbegriff muß also spezifiziert werden auf die Belange der Kunst und nicht nur der Kunst im allgemeinen, sondern auf die der bildenden im besonderen, soll er als Qualitätskriterium wirklich handhabbar werden. Denn auch zwischen den verschiedenen Künsten gibt es – bei allen Gemeinsamkeiten – doch auch ganz beträchtliche Unterschiede in den genannten Bezügen und Modalitäten. Will man sich bewußtmachen, mit welchen Besonderheiten man es beim bildnerischen Ordnen zu tun hat, dann ist ein Vergleich mit den ganz andersartigen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der sogenannten Prozeßkünste recht aufschlußreich: Während Literatur, Theater, Musik, Film und Fernsehen ihre Aussagen in zeitlicher Abfolge sukzessive und dynamisch entwickeln und insofern auch den Rezeptionsvorgang vom Einstieg über Höhepunkte bis zum Abschluß nach einer vorgegebenen Ordnung der Gesamtform gewissermaßen steuern können, ohne dabei auf Korrekturen, Umbewertungen, Relativierungen und „Aufhebung" im dialektischen Sinne verzichten zu müssen, scheint es dagegen die bildende Kunst dem Betrachter weitgehend selbst zu überlassen, an welcher Stelle eines Bildes er ansetzt, in welcher Reihenfolge er die Auseinandersetzung weitertreibt, wann und wie er sie abschließt. Von daher gesehen hat ein Bild ja weder Anfang noch Ende. Alle Elemente der bildnerischen Formgestalt bieten sich auf Grund ihrer statischen Modalität scheinbar gleichzeitig und damit möglicherweise auch gleichwertig dem Auge des Betrachters dar. Aber dies ist in der Tat bloß zu einem gewissen Teil zutreffend. So sehr es stimmt, grundsätzlich mit der simultanen Wirkung der bildnerischen Gesamtform rechnen zu müssen, gerade bei wirklich künstlerischen Werken ist dennoch in der Komplexität des gleichzeitig präsenten Gesamtgefüges ein deutlicher Aufbau, eine klare Ordnung spürbar, die auch die Betrachtung immer wieder in die beabsichtigten Bahnen lenkt, auch wenn sie sich – ganz natürlich – gelegentlich an Zufälligem, an Beiläufigem, am Unwesentlichen festzuhaken und die Orientierung zu verlieren droht.

Hierin drückt sich auch die Qualität bildkünstlerischer Ordnung aus, nämlich daß sie so in sich organisiert ist, daß man zwischen Gemeintem und nicht Gemeintem, zwischen dem Bedeutsameren und dem weniger Bedeutsamen – in der Fachsprache ausgedrückt zwischen Figur und Grund unterscheiden und somit auch Wertrelationen optisch erfassen kann, die sich aus solcherart hierarchisch geordnetem Bildgefüge ergeben. Damit überhaupt etwas wirken kann, muß notwendig etwas anderes zurücktreten. Wenn alles gleich laut oder auch gleich leise sein will, wird nichts mehr verständlich. Wer dieses elementare Differenzierungsprinzip nicht beachtet, der wird kaum etwas bildnerisch klar artikulieren können. Um gleich wieder einem möglichen Mißverständnis zu begegnen: Klarheit im bildhaftanschaulichen Sinne heißt nicht schnell ablesbar, auf Anhieb verständlich. Dies würde ja bedeuten, die Qualitätsanforderungen an ein künstlerisches Bild auf die eines Plakates zu reduzieren, (wobei auch das gute Plakat mehr als nur solchen Anspruch erfüllt). Die Qualität eines wirklichen Bildkunstwerkes erweist sich vielmehr gerade darin, daß es nie alles, was es zu sagen hat, auf den ersten Anblick hin offenbart. Seine Formgestalt ist nämlich so organisiert, daß klar geordnete Figur-Grund-Beziehungen mit in gewisser Weise gegenläufigen Formtendenzen korrespondieren. Gemeint ist „das Verfahren der .Verfremdung' der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert" und – wie W. Schklowsky verabsolutierend meinte – die Methode der Kunst überhaupt sei.(10) Nur so ist zu verstehen, weshalb große Kunst zu wiederholter Begegnung reizt, zu erneuter Auseinandersetzung provoziert und – im Grunde unausschöpfbar – immer wieder zum Erlebnis wird. Was die Differenzierung zwischen Figur und Grund als Ordnungsprinzip und -faktor bildästhetisch organisierter Gebilde betrifft, so ist noch nachzutragen, daß sie in komplexen Bildgestaltungen in vielschichtiger Weise in Erscheinung tritt, das heißt was in einer Beziehung gemeinte Figur ist, kann in einer anderen Beziehung zum Grund für eine zweite Figur werden usw. Die erste Ebene dieses Verhältnisses ist sicher als ein Bezogensein der zentralen, grundlegenden Bildfigur auf das Format der gesamten Bildfläche aufzufassen. Die letzte oder höchste Ebene solcher Figur-Grund-Relation mag in der Akzentuierung eines unter Umständen quantitativ sehr gering bemessenen Bildelements zum Ausdruck kommen. Dazwischen liegen oft vielfältige Stufen dieser Formdifferenzierung, die in qualitätsvollen Bildlösungen – wie gesagt – immer auch eine überschaubare, hierarchisch gegliederte Ordnung des Bildganzen sichtbar machen. Damit soll keineswegs anders strukturierten, etwa seriell gegliederten, metrisch-rhythmisch oder freirhythmisch konzipierten Bildordnungen grundsätzlich jede künstlerische Qualität abgesprochen werden. Nur sind solche Ordnungsvarianten unseres Erachtens weit weniger oder gar nicht geeignet, um differenzierte Wertrelationen im Sinne realistischer Bildaussagen sinnfällig vor Augen zu führen. Nicht ohne Grund dienen ja derartige bildnerische Ordnungen insbesondere dekorativen Zwecken, denn eben solche Zwecke erfordern geradezu das Moment einer gewissen Gleichwertigkeit der jeweiligen Teilformen. Erfahrungsgemäß gibt es in bezug auf das Figur-Grund-Verhältnis für Lernende komplizierte bildnerische Probleme zu lösen. Zum einen kann es passieren, daß sich gemeinte Figur und Grund nicht deutlich genug voneinander abheben, was unter Umständen auch die jeweils beabsichtigte, inhaltlich notwendige Bildspannung nicht mehr sichtbar werden läßt. Zum anderen kann die Figur-Grund-Differenzierung so weit getrieben sein, daß dieser Kontrast zu einem ganz ungewollten optischen „Herausfallen" der Bildfigur oder eines ihrer Teile aus dem gesamten Gefüge führt. Meist ist daran der auf die Figur konzentrierte Einsatz aller nur möglichen Form- und Farbkontraste schuld, und zwar bei gleichzeitigem Ignorieren der Funktion des Bildgrundes.

Ist jedoch das notwendige Minimum an Bindung zwischen Figur und Grund nicht mehr gegeben, dann bricht die Bildeinheit sozusagen auseinander und das Werk ist in seiner Gesamtwirkung als einheitliches ästhetisches Gebilde beeinträchtigt. In diesem Zusammenhang ist es nützlich, sich einer Bemerkung George Braques zu erinnern: „... wahrhaftig, es scheint mir ebenso schwer, das ,Zwischen-den-Dingen' als die Dinge selbst zu malen. Das Zwischen-den-Dingen scheint mir ein Hauptelement, genau wie das, was die Leute Gegenstand nennen.“(11) Zum dritten kann eine Figur-Grund-Beziehung dadurch gestört sein, daß sich Bildteile beziehungsweise Bildobjekte dort eng verbinden, wo sie sich gar nicht zu einer Figur zusammenschließen sollen, was im Extremfall bei der Rezeption zu gegenständlich-inhaltlichen Fehldeutungen führen kann. Schließlich sei noch erwähnt, daß sogenannte Negativformen, das heißt Teile des Grundes mitunter so gewichtig werden, daß sie das eigentlich Gemeinte optisch verdrängen, unwesentlich erscheinen lassen, also selbst als Figur wirksam werden.

Aus all den genannten Fällen und noch manch anderen, ähnlich gelagerten Beispielen wird jedenfalls bereits der innere Zusammenhang der Figur-Grund-Probleme als Problem spezifisch bildhaften Ordnens mit dem generell zu lösenden bildkünstlerischen Inhalt-Form-Problem erkennbar. Im gewissen Unterschied oder gar Gegensatz zu anderen Meinungen über das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst gehen wir nicht davon aus, daß eine im künstlerischen Sinne verstandene Einheit von Inhalt und Form in bildnerischen Leistungen a priori gegeben ist. Dies würde nämlich voraussetzen, daß es immer gelingt, künstlerisch ästhetisches Weltverhältnis überzeugend ins Bild zu setzen. Es gibt aber auch Mißglücktes, Unbewältigtes, Sinnentleertes, auch mechanisch Übernommenes, das innerhalb des Bildgefüges als „Fremdkörper" wirkt und ungewollt zum Störfaktor wird. Ansonsten könnte man im Grunde auch niemals von einem wirklichen Problem in bezug auf das Herstellen der bildkünstlerischen Inhalt-Form-Einheit sprechen, aber wahrscheinlich auch nicht von Formalismus, dessen verschiedenartigste Varianten auf formal-ästhetische Prinzipien und Doktrinen zurückzuführen sind. Auch die bekannte These von der relativen Selbständigkeit der künstlerischen Form ließe sich dann so nicht aufrechterhalten. Letztlich könnte dann auch wohl kaum zwischen inhaltlichen und formalen Qualitäten differenziert werden.
Selbstverständlich bleibt auch nach unserer Auffassung unbestritten, daß grundsätzlich jeder Inhalt nur als geformter Inhalt existiert, wie jede Form stets Verkörperung von Inhalt bedeutet. Insofern ist es schon richtig, auch bei der Kunst wie bei allen anderen Dingen und Erscheinungen eine Einheit von Inhalt und Form vorauszusetzen. Aber daraus kann nicht geschlossen werden, daß alle bildnerischen Leistungen von vornherein als Einheit von künstlerischem Inhalt und künstlerischer Form auftreten, und darauf liegt der Tenor unserer Argumentation.

Der Irrtum rührt möglicherweise auch daher, daß man übersieht, daß sowohl der künstlerische Inhalt als auch die künstlerische Form keine homogenen, sondern sehr „komplizierte Gebilde" sind,(12) die innere und äußere, objektive und subjektive Seiten besitzen. So kann beispielsweise die innere Form in ihrer ganzen Anlage einen von bestimmter Aussageabsicht getragenen Inhalt erkennen lassen, der durch die äußere Form (als „unmittelbarer sinnlicher Realität des künstlerischen Inhalts," wie Kagan sagt(13)) nicht voll verkörpert und bestätigt, ja, geradezu in sein Gegenteil gekehrt und damit negiert wird. Oder konkreter gefaßt: Wenn sich Teile der äußeren Form (etwa Schraffuren, Fakturen, Farben usw.) in ihrer optischen Wirkung aufdringlich in den Vordergrund drängen, hohen Eigenwert beanspruchen, gleichzeitig aber deutlich erkennbare, „realistisch" gemeinte Bildobjekte und -zusammenhänge als Teile der inneren Form ebenfalls inhaltliche Bedeutung erlangen, dann hat man gewöhnlich den unbefriedigenden, ja peinlichen Eindruck von äußerlich aufgesetzter Mache, manieriertem Gehabe, unangemessenem Einsatz der Mittel, eigentlich also von einer Verselbständigung der Form. Man könnte solchen bildnerischen Sachverhalt vielleicht auch als eine Diskrepanz zwischen verschiedenen Abstraktionsgraden interpretieren, die unserer Anforderung an innere Geschlossenheit des Bildganzen widerspricht. Ebensogut kann man dies aber auch als ein gestörtes Verhältnis, als einen Bruch oder künstlerisch unbewältigten Antagonismus zwischen Inhalt und Form verstehen. Wird solcher Widerspruch nicht im Sinne bildkünstlerischer Inhalt-Form-Einheit produktiv, dialektisch „aufgehoben", also künstlerisch gemeistert, existieren also innere wie äußere Form gewissermaßen gleichwertig nebeneinander her, wird der Rezipient also in seinem Erleben ständig vom Zwiespalt des „intendierten und tatsächlich realisierten Inhalts"(14) hin und her gerissen, dann kann das Ganze auch nicht als Kunstwerk funktionieren.

Aus allen diesen Überlegungen heraus halten wir es – mit Kagan(15) – für durchaus begründet, die Inhalt-Form-Einheit, verstanden als „maximale Verschmelzung" von künstlerischem Inhalt und künstlerischer Form oder „maximale Sinnerfüllung" der gesamten Form als eines der entscheidenden Qualitätskriterien heranzuziehen. Auf dieser Ebene und besonders unter dem Aspekt der sinnerfüllten Form muß selbstverständlich auch nach solchen Qualitäten gefragt werden, wie
- Originalität,(16) Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit;
- Phantasiereichtum oder poetische Kraft;
- „ästhetische Attraktivität"(l7);
- Signalwirkung(18)
- Formerfindung und Formdichte(19);
- Einfachheit der Lösung(20);
- optimalem Verhältnis von Information und Redundanz(21);
- Verwandlung von Stoff in Form.(22) Wenn die vorgenannten Kriterien im Kunstunterricht jeglicher Art als Komponenten fachspezifischen Wissens eine Rolle spielen und als Maßstäbe für bildkünstlerische Urteile allmählich bewußt werden, dann kann dies unseres Erachtens mithelfen, nicht nur eine gewisse subjektive Willkür in vertretbaren Grenzen zu halten, sondern überhaupt kunstgemäßes Verhalten im produktiven wie im rezeptiven Bereich und damit auch die Ausprägung eines bewußten eigenen künstlerisch-ästhetischen Weltverhältnisses zu befördern.

Entsprechend der von uns bereits früher behandelten Spezifik im Verhältnis von künstlerischem Wissen und Können,(23) muß erneut nachdrücklich betont werden, daß bloße Begriffskenntnis vorn dargelegter Qualitätskriterien – zumal, wenn sie auf einen unkommentierten und daher leicht mißverständlichen Katalog schlagwortartig zusammengestellter Grundbegriffe reduziert ist – noch keinerlei Garantie für die erstrebenswerte Fähigkeit gewährt, solche Kriterien richtig anzuwenden, mit ihnen sicher und sinnvoll umzugehen. Das gilt sowohl für den Lernenden als auch in besonderem Maße für den Lehrenden, von dem jene Befähigung natürlich zuallererst zu verlangen ist. In einer konkreten bildnerischen Leistung klar zu erkennen, ob und inwieweit sie den genannten künstlerischen Maßstäben gerecht wird, wo positive Ansätze in Hinsicht auf Einheitlichkeit, Geordnetheit, Inhalt-Form-Übereinstimmung usw. bestehen oder aber diesbezügliche Mängel, das setzt beim Kunsterzieher ein besonders entwickeltes Können voraus, das nur aus intensivem eigenem bildnerischem Tätigsein erwächst. Nur auf dieser, ständig sich erweiternden Erfahrungsbasis kann jener hohe Grad an sinnlichgeistiger Sensibilität und Urteilskraft erworben werden, erhalten bleiben und sich stetig weiterentwickeln, der erforderlich ist,. um allen Ansprüchen an ein qualifiziertes Urteil gegenüber bildnerischen Leistungen unterschiedlichsten Ranges genügen zu können. Ohne diese elementare Voraussetzung immerwährender Bemühung um Qualität in der eigenen bildnerischen Tätigkeit dürfte es vor allem schwerfallen, wenn nicht sogar unmöglich sein, jene feinen, oftmals nur winzigen Unterschiede zu bemerken, auf die es gerade in der Kunst ankommt.(25) Nur durch eine von echtem bildnerischem Erleben getragene eigene bildnerische Produktivität mag auch verhindert werden, daß die Arbeit des Kunst-Erziehers mit dem so notwendigen fachspezifischen Theoriewissen, wie etwa jenen Qualitätskriterien, nicht zu einem sterilen Schematismus verkommt mit all den möglichen dogmatischen Verabsolutierungen und Borniertheiten, die für kunstgemäßes Verhalten und Handeln so verhängnisvoll sind.

Nicht zuletzt unter diesem Aspekt scheint es gerechtfertigt, vom Kunsterzieher (auch vom Zirkelleiter) zu verlangen, seine im Studium (Weiterbildung) einst erworbene künstlerisch-praktische Befähigung nicht verkümmern zu lassen, sondern bewußt konzentriert auf den Ausbau eigener Potenzen weiterzuentwickeln.

Eva Böhm zum Beispiel sieht „neben dem regelmäßigen Besuch von Kunstausstellungen und dem Verfolgen der gesellschaftlichen Kunstdiskussion ... die eigene künstlerischpraktische Tätigkeit (als) das Hauptfeld der fachlichen Profilierung des Kunsterziehers" an. Und sie meint damit ein künstlerisches Tun „nicht nur gelegentlich .für den Hausgebrauch' ..., sondern in voller Kenntnis des aktuellen Kunstprozesses in der Welt und in bewußter parteilicher Haltung hierzu ... an einer persönlichen künstlerischen Konzeption" arbeitend.(26)

So richtig dies alles sein mag und so sehr die von E. Böhm, L. Hammer und anderen in diesem Punkt vertretene Auffassung begründet erscheint und nur voll zu unterstreichen ist, so sehr muß man sich darüber im klaren sein, daß man damit gleichzeitig ein kunstpädagogisches Problem ganz anderer Art auf den Plan ruft: Insofern der angehende Kunsterzieher sich als Künstler versteht, kann, ja muß sein Urteil gegenüber anderen künstlerischen Produktionen nur ein betont subjektives sein, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

Es dürfte folglich nicht verwundern, wenn auch der künstlerisch-produktive Kunsterzieher schließlich eine Position einnimmt, wie sie zum Beispiel Ursula Mattheuer-Neustädt für sich beansprucht: „Und ich nehme mir auch das Recht konsequenter Ablehnung; wenn man selbst etwas schaffen will, muß man sich abgrenzen. Objektivismus ist für einen Künstler eine unfruchtbare Haltung".(27) Dies erklärt im übrigen zu einem guten Teil auch jene Einseitigkeit, Absolutheit und Intoleranz mancher Künstlerurteile, ihre bisweilen vernichtende Rigorosität. Angesichts solcher scheinbar unvermeidlichen Einschränkungen und Beeinträchtigungen des objektiven bildnerischen Qualitätsurteils könnte man sich veranlaßt sehen, die o. g. Forderung nach künstlerischer Profilierung des Kunsterziehers wieder falten zu lassen. Denn schließlich muß der Kunsterzieher zu einem sehr breiten Spektrum individuell verschiedener künstlerischer Gestaltungsweisen Zugang finden, wenn er seinen Aufgaben wirklich gerecht werden soll, und zwar sowohl als Vermittler von Kunst wie auch als Förderer von bildnerischer Individualität. Aber die gekennzeichnete Gefahr der Vereinseitigung und Verabsolutierung im Verständnis von künstlerischer Qualität und entsprechenden Urteilen ist ja keineswegs allein beim Künstler gegeben, sondern auch bei all denen, die selber nicht künstlerisch-praktisch tätig sind. Sofern sie nur überhaupt ein eigenes künstlerisch-ästhetisches Weltverhältnis haben, werden sie diesbezüglich immer auch bestimmten Grenzen unterliegen. Selbst der auf Objektivität des Urteils bedachte Kunstwissenschaftler ist davon nicht frei. Ein bestimmter persönlicher Geschmack, gewisse Vorlieben und Aversionen, die jeweils latent wirken oder offen zutagetreten, prägen auch sein Kunsturteil mit, und die meist plausibel und intelligent klingende Argumentation pro oder contra eine konkrete künstlerische Erscheinung wird gewöhnlich auch von solchen Faktoren mit gesteuert.

So gesehen werden bildkünstlerisches Qualitätsverhalten wie Werturteil in jedem Falle in bestimmter Weise subjektiv geprägt sein. Wichtig und für die kunstpädagogische Arbeit letztlich entscheidend ist vielmehr, daß er sich jener subjektiven Grenzen bewußt ist und sie ständig zu erweitern trachtet.

1) Heise. Wolfgang: Marx — und einige theoretische Fragen der bildenden Kunst, in: Bildende Kunst, 8/1983. Beilage S. 7.
2) Kagan, Moissej: Vorlesungen ..., a. a. 0., S. 286
3) Vgl. Hauser, Arnold: Soziologie der Kunst, München 1983, S. 4 und S. 454
4) Vgl. Ideologische Konzeption zur VI. Bezirkskunstausstellung Leipzig 1961, S. 11.
5) Winzinger, Franz: Kunstbetrachtung, Berlin 1954. S. 26.
6) Lexikon der Kunst, Bd. 2, Leipzig 1971, S. 214
7) Wieland Förster in: Schumann, Henry: Ateliergespräche, a. a. 0., S. 61.
8) Kagan, Moissei: Vorlesungen ..., a. a. O., S. 317
9) Günther Regel, Eigenart, Struktur und Verlauf bildkünstlerischer Schaffensprozesse, in: Kunsterziehung Heft 7/8 1976, S. 15.
10) Victor Schklowsky, zitiert nach Juri M. Lotmann, Kunst als Sprache, Leipzig 1981, S. 411 (Nachwort von Klaus Städtke); Ähnliches bestätigt Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1923, S. 209: „Nun ist es ja bekannt, daß jede fortschreitende Kunst die Aufgabe für das Auge schwerer und schwerer zu machen sucht ... daß der Beschauer, dem dos Einfache allzu durchsichtig geworden ist, n der Losung der verwickelteren Aufgabe einen Reiz empfindet"' Vgl. dazu auch Lew S. Wygotski, Psychologie der Kunst, Dresden 1976, S. 63ff. sowie Herbert W. Franke, a. a. 0., S. 128
11) Zitiert nach Lothar Hammer, Die bildnerischen Fähigkeiten umfassend entwickeln, in: Kunsterziehung Heft 4/1978, S. 12
12) Moissej Kagan, a. a. 0., S. 317
13) Ebenda, S. 315
14) Günther Regel, Medium bildende Kunst, 3eriin 1986. S. 34ff.
15) Moissej Kagan, a. a. 0., S. 334-345
16) Günther Regel, Medium bildende Kunst, a. a, 0., S. 297ff.
17) Erhard John, Eberhard Lippold, Michael Rammler, Kunst und sozialistische Bewußtseinsbildung. Berlin, 1974, S. 149-169
18) Bernhard Heisig, in: Henry Schumann, a. a. 0., S.113/114
19) Karl Max Kober, Anstrengung des Tages – Investition in die Zukunft, in: Bildende Kunst Heft 21 1982, S. 57
20) Friedhardt Klix, Erwachendes Denken, Berlin 1980, S.264ff.
21) Herbert W. Franke, a. a. 0., S.184
22) Friedrich Schiller, Über Kunst und Wirklichkeit, Leipzig 1984, S. 302: vgl. Wolfgang Heise, a. a. 0.. S. 2: L. S. Wygotsky: a. a. 0., S. 251 ff.: Will Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst. Stuttgart 1947, S. 37/38
23) Zum Verhältnis von Wissen und Können ... a. a. O..S. 7
24) Vgl. Güntner Regel, Medium bildende Kunst, a. a. 0. S. 13
25) Vgl. L. S. Wygotsky, a. a. 0., S. 39, siehe dazu auch Max J. Friedländer, Von Kunst und Kennerschaft. Berlin-West 1955, S. 155 vgl. auch Wilhelm Ebert, Zum bildnerischen Verhalten des Kindes im Vor- und Grundschulalter, Ratingen 1967, S.49
26) Eva Böhm, a. 2. 0., S. 183/184: vgl. Lothar Hammer, Die bildnerische Tätigkeit des Kunsterziehers ... a. a. 0., S. 30: „Immer wieder setzt sich die Einsicht durch, daß man keinen guten Kunstunterricht über einen längeren Zeitraum erteilen kann, ohne selbst bildnerisch zu arbeiten vgl. Wilhelm Ebert, Künstler und Kunsterzieher, in: Kunstpädagogik, Heft 4/1981, S. 8: „Kunsterzieher ohne künstlerische Ausbildung sind keine im vollen Sinne des Wortes".
27) Ursula Mattheuer-Neustädt, in: Henry Schumann, a. a. 0.. S. 151: vgl. Karl Scheffler. Der Geist der Gotik. Leipzig, 1917. S. 110: „Der Künstler kann Neues nur schaffen .... wenn er sich einseitig ... entscheidet, wenn er eine Wahl trifft und rücksichtslos ablehnt, was seinen Trieb zu hemmen imstande ist ... er darf nicht objektiv werden, sondern muß lieben und hassen".