Qualität – ein Fremdwort?

(10./12.09.1991, überarbeitet 11./12.04.1992)

Veröffentlicht in: Roland R. Richter: NOTATE, Reden, Vorträge, Aufsätze, Briefe, 1988–1998, hrsg. am Institut für Kunstpädagogik der Universität Leipzig, 1999

Seit reichlich anderthalb Jahrzehnten bemühe ich mich nun um Klärung des künstlerischen Qualitätsbegriffs, schon um dem Alleinvertretungsanspruch bestimmter Ideologen zu begegnen, die die Kunst – wie man weiß – nur allzu oft mit rigider Beckmesserelle abzuurteilen bereit sind, in aller Regel zu jedenfalls inadäquaten Maßstäben Zuflucht nehmen, wenn es um die Beurteilung künstlerischer Qualität geht. Aber im Gegensatz zur Situation in der alten DDR ist heute auf dem Kunstsektor von Qualität kaum noch die Rede. Mehr dagegen hören wir von Marktwert, und wer niemals je etwas von Börsenkursen und ihren unergründlichen Mechanismen verstanden hat, wird wohl kaum begreifen, wie etwa der arme Vincent, dem es zu Lebzeiten nicht vergönnt war, mehr als ein einziges Bild zu verkaufen, heute zum teuersten Maler der Welt avancieren konnte. Auch wird er es nicht fassen können, welche Unsummen für Werke von eben noch völlig unbekannten Zeitgenossen gezahlt werden und wie Insider der New Yorker Kunstszene ihre Wohnung mit Kounellis und De Kooning bis zu Baselitz und Beuys ausstatten, für sechsstellige Dollarbeträge! „Money creates taste“ heißt die Devise und „ist eine von mehreren Banalitäten auf einer Skulptur von ... Jenny Holzer ..., runen-ähnlich in braunen Granit gemeißelt, taucht besagter Gemeinplatz heute in fast jeder großen New Yorker Kunstsammlung auf, in den Wohnzimmern, Schlafgemächern und Gärten der Reichen. Amerikas Sammler sind stolz auf ihren Geschmack. Egal ob gut oder schlecht. Und natürlich sind sie auch stolz auf ihr Geld. – Eines der Charakteristika der Postmoderne war, daß der Kunstmarkt der Kunstkritik den Rang ablief.“(1)

Mit Qualität jedenfalls hat das alles herzlich wenig zu tun, zumindest im Verständnis gestandener Kunsthistoriker!(2) „Ist Qualität ein zu großes Wort in der Kunst von heute? Oder ein zu kleines?“ fragt Gosebruch. Seine Antwort: „So recht will es nicht mehr passen.“ – „Irgendein Äquivalent dazu scheint es auch ohne Gebrauch des Wortes zu geben“ und er konstatiert: „Qualität ist, was mit viel Geld bezahlt wird, wenn es besonders unwahrscheinlich ist”.(3)

Ist es also sinnlos oder überflüssig, sich dieses dubiosen Terminus und seines schillernden Inhalts zu vergewissern? Überflüssig wie sinnlos deshalb, weil die ehedem ideologische Elle – mutatis mutandis – hier und heute einer ebensolch unangemessenen, kommerziellen gewichen ist und weil man unter dieser Voraussetzung realistischerweise davon ausgehen muß, daß alle ernsthafte theoretische Bemühung um Prämissen des künstlerischen Qualitäts- und Werturteils eh nichts an der weithin geübten Praxis wird ändern können? Wer so dächte, hätte – für meine Begriffe jedenfalls – sein Recht verwirkt, ex officio über Kunst zu urteilen, wie es ja bei allen, die ein solches Lehramt ausüben, in aller Regel der Fall ist.

Wenn ich also trotz allem hier und heute versuche, mich dem Problem der künst-lerischen Qualität und seiner Beurteilung erneut zu stellen, so selbstredend nicht mit dem vermessenen Anspruch und Ziel, zu einem immer und ewig gültigen Absoluten vorzustoßen und letzte Weisheiten zu verkünden. Vielmehr geht es mir darum, gewisse Aporien ins Bewußtsein zu heben, die – nach meiner Beobachtung – regelmäßig im Umgang mit Kunst und ihrer Beurteilung verschämt unterschlagen oder aber ganz einfach ignoriert werden, sofern sie denn überhaupt bewußt geworden sind. Denn kaum einer der von Berufs wegen mit Kunst (Kunstlehre, Kunstkritik, Kunstgeschichte, Kunsthandel und – nicht zuletzt – Kunstpädagogik) befaßten Professionals gibt solcherart Schwierigkeiten gern und offen zu. Fast durch die Bank tun sie fast alle so, als wüßten sie ganz genau, was Kunst und mithin ihr Qualitätskriterium sei. Nur nach Begründungen und Definitionen zu fragen scheint suspekt. „Irgendwie“ – dies Wort ist obligatorisch bei entsprechenden Meinungsbildungen – oder „irgendwo“ weiß man halt, was gut und schlecht ist bei der Kunst, und das reicht! Und kommt solches Urteil gar aus dem Munde oder der Feder einer sogenannten Fachautorität, dann wird es wohl schon stimmen, selbst wenn der Betreffende sich hinter nebulösen Allgemeinplätzen oder dem üblichen Fachchinesisch verschanzt und damit im Grunde nur seine, bei Lichte besehen, zumeist höchst subjektive Wertschätzung oder Ratlosigkeit eher verbirgt, statt – was durchaus hilfreich wäre – sie einzugestehen.(4)

1) Heinz Peter Schwerfel: Leben für die Kunst. Zeitmagazin 24/07.06.1991, S. 60-75.
2) Vgl. Martin Gosebruch: Glück und Unglück des Qualitätsbegriffs in der Bildenden Kunst. Zeitschrift Pantheon. München 1980, S. 120
3) Ebd.
4) Vgl. Hartmut von Hentig, zitiert bei Hans Giffhorn: Kritik der Kunstpädagogik. Köln 1972, S. 59; vgl. auch Daucher/Seitz: Didaktik der Bildenden Kunst. München 1969, S. 99. Hier heißt es: “Nirgends neigen wir so sehr dazu, unsere eigenen Vorstellungen für die objektiv richtigen zu halten, als in der Rangordnung unserer Werte, und es kostet in der Regel außerordentliche Selbstüberwindung, reflektierend die Subjektivität der eigenen Wertordnung einzugestehen.”

NOTATE, Reden, Vorträge, Aufsätze, Briefe, 1988–1998