NFL – Oder das Ende der flächendeckenden Beuys-Landschaft
(Multi mediale Aspekte künstlerisch ästhetischer Praxis)
Einleitung zum Film- und DIA-Vortrag am Institut für Kunstpädagogik der Universität Leipzig am 19. Januar 1995
Meine Damen und Herren, zunächst die üblichen Vorbemerkungen, um wahrscheinlichen Mißverständnissen von vornherein vorzubeugen: Ich bin weder ein Experte (oder so was) für Beuys noch für Multi Media. Wenn Sie solches vermutet haben sollten – bei dem in der Tat kryptisch klingenden Titel der Veranstaltung wäre dies nicht verwunderlich – so muß ich Sie enttäuschen.
Für Beuys gibt es wahrlich kompetentere Interpreten (auch hier im Raum!). Aber ich gehe mal davon aus, daß der Mann mit dem Hut – wenn ich das heutige Gremium richtig einschätze – hinlänglich bekannt sein dürfte, so daß auch mal ein sehr persönlicher Blick, eine recht subjektiv gefärbte Facette der Beuys-Rezeption/Reflexion erlaubt sein müßte. Vielleicht kann dies helfen, dieser umstrittensten Figur der zeitgenössischen Kunst näherzukommen?
Denn es ist doch schon sehr merkwürdig: Gestandene Kunsthistoriker (Martin Gosebruch etwa, langjähriger Ordinarius für Kunstgeschichte in Braunschweig) gehen voll mit bis zur klassischen Moderne, aber bei Beuys scheren sie aus. Warum nur? Und wenn das bei den in aller Regel um Objektivität bemühten Wissenschaftlern so ist, kann man sich gut vorstellen, wie es bei praktizierenden Künstlern ausschaut, denen von jeher das Recht auf subjektive Grenzen, subjektiven Irrtum eingeräumt wird, von dem Heer der sogenannten Laien (griechisch: das nicht unterrichtete Volk) ganz zu schweigen.
Selbst jene Künstlerkollegen, die als Hochschullehrer wirken und von denen man Einsicht erwarten sollte, tun sich schwer mit Beuys, wie etwa Norbert Kricke (Kollege von Beuys an der Düsseldorfer Akademie, später ab 1972 Rektor daselbst). Er hat Beuys seine Aversion deutlich spüren lassen und kommt „zu einer fast gnadenlos zu nennenden Analyse des Beuysschen Tuns: ,... Angst scheint seine Triebkraft zu sein, sie sitzt tief und überall bei ihm: Technik ist böse, Heute ist böse, Autos sind schrecklich, Computer unmenschlich, Fernseher auch, Raketen sind furchtbar, Atome gespalten zerrütten die Welt. Flucht in das Gestern, Besserung der Menschen, Sehnsucht nach rückwärts; altes Gerät, Kordeln mit Gebündeltem, Staub und Filz, Befettetes, Wachs und Holz, mürbes Gewebe, Trockenes und Geschmolzenes, alles serviert er grau, braun und schwarz wie dunkel gewordene alte Gemälde, Museumsstaub, Museumsgeruch an allen Objekten schon bei der Entstehung, dämmerig und wenig belüftet die Welt seiner Dinge: dauerndes Spiel, Versteck im Versteck, Wachs auf der Kiste, Fett im Eck, in den Teppichrollen qualvoll lange drinnen bleiben: Er nimmt es auf sich für uns alle. Das ist sein Anspruch: Vertreter im Leiden, er spielt den Messias, er will uns bekehren, er will die Akademie die Rolle der Kirchen übernehmen lassen – das ist für mich sein Jesus Kitsch’“ (1)
Sicher, das klingt hart, polemisch zugespitzt, intolerant, ist aber bei aller Bösartigkeit, cum grano salis auch sehr treffend. Besser jedenfalls hat es kaum ein wirklicher Beuys Adept je formuliert, worum es dem Meister ging.
Inzwischen ist gut ein Viertel Jahrhundert ins Land gegangen, mit vielen dicken Büchern, in denen manch Kluges über das Phänomen Beuys steht (neben mancherlei Unsinn). Und man sollte meinen, daß wenigstens alle von Berufs wegen mit Kunst Befaßten eine echte innere Beziehung zu Beuys bekommen hätten. Aber davon kann gar keine Rede sein!
Vielleicht – so vermute ich – liegt es einfach daran, daß man das Umfeld, den Kontext, aus dem dieses künstlerische Werk wuchs, nicht oder nicht genug ins Auge faßte, um zu begreifen, worum es Beuys ging.
Ich meine das ganz wörtlich: In einer Welt – und wir erleben es jetzt ganz hautnah –, deren äußeres Erscheinungsbild mehr und mehr von Glanz und Glamour bestimmt wird, von technoider Perfektion und buntem Reclamekitsch, vom modischen Styling der Designergarde wie vom billigen Fast Food Ramsch einer Massenproduktion sinnloser wie überflüssiger Konsumartikel, in einer Welt, deren innere Werte sich darauf zu beschränken scheinen, daß man sich jung, fit und dynamisch hält, um jeden Preis, koste es, was es wolle, in so einer Welt ist es schon eine sehr mutige, aber auch höchst auffällige Haltung, als Künstler ein dezidiert gegenpoliges Programm aufzustellen: nämlich die Würde des Altseins, des Geschunden- und Beschädigtseins sichtbare Gestalt werden zu lassen und damit Zeichen zu setzen gegen den allgemeinen Trend einer erlebnishungrigen „Amüsiergesellschaft“ (2), die nach immer neuen Mitteln und Methoden giert, gewissermaßen zur „Übertäubung des Sterbenmüssens“, von der der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ (3) spricht.
Das macht zunächst eine gewisse emotionale Barriere des Verstehen-Wollens gegenüber Beuys begreifbar, denn wer will schon gern an Alter und Tod erinnert sein!
Aber es gibt auch eine intellektuelle Hürde des Verstehen-Könnens: Es ist nämlich, gerade bei Beuys, außerordentlich schwer, den feinen Unterschied von Kunst und Realität, genauer, den zwischen Form und Stoff zu erkennen. Es ist ja einfach nicht wahr, daß im Werk des Joseph Beuys Kunst und Wirklichkeit zum „Grenzwert der Tautologie“ zusammenschmelzen, um ein Wort des vorzüglichen Essayisten Dieter Wellershoff aus „Wahrnehmung und Phantasie“ (4) zu benutzen.
Ebensowenig wie jeder Mensch ein Künstler ist (diesem von ihm selbst provozierten Mißverständnis war Beuys deutlich entgegengetreten), ist jeder von Beuys integrierte reale Gegenstand a priori schon Kunst. Die oftmals nur minimalen Eingriffe und Veränderungen der Objekte und Ensembles, die Beuys bei seinen Installationen und Inszenierungen vornimmt, sind für den Rezipienten in aller Regel als Akt künstlerischer Umsetzung kaum wahrnehmbar.
Folglich spürt er auch nicht, wo und wie Beuys mit seiner sparsamen Manipulation eine Gestaltqualität seiner Gebilde erreicht, ein Formklima schafft, das in entscheidendem Punkt eben nicht mit der Realität identisch ist! Hier trifft wohl am ehesten zu, was schon Goethe wußte: „Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der selbst etwas dazu zu tun hat, die Form aber ist ein Geheimnis den meisten.“
Um nachvollziehen zu können, was ich meine, möchte ich Sie heute weniger in die Welt der Kunst, als vielmehr in die der Realität entführen, wie gesagt, aus einem mehr persönlichen Beweggrund und Blickwinkel, der gewiß nicht jedermanns Sache ist: Das Morbide, Desolate, Schäbige, Graue dieser maroden Landschaft im Osten, Neufünfland – nichts anderes heißt das Kürzel NFL – hatte mich schon immer interessiert.
Aber als ich 1990 nach einem kurzen U.S.A. Aufenthalt in Chicago wieder in Leipzig eintraf, erlebte ich dieses Land intensiver als je zuvor in seiner Schlichtheit, in seiner Brüchigkeit, in seiner „Ästhetik des Verfalls“, auch eben in seiner Würde des Altseins.
Und gelegentlich einer sich polemisch zuspitzenden Diskussionsrunde mit westdeutschen Kollegen von der Uni Braunschweig (Prof. Stielow u.a.), dachte und sagte ich schlagartig „flächendeckende Beuys-Landschaft“.
Seither wandelt sich das äußere Bild vehement und stetig: überzogen mit Plastefolien und Netzwerk á la Christo, durchsetzt mit allerlei Blendkram und grellbuntem Werbekitsch á la Jeff Koons, schwindet immer mehr vom malerischen Unisono altehrwürdiger Gemäuer und bröckelnder Fassaden, in denen Sie die ganze Moderne wiederfinden können: die Ecole de Paris, wie den abstrakten Expressionismus der Amerikaner, bis hin zu den combine paintings der Popart und zur post painterly abstraction, der Farbfeldmalerei.
Doch der spröde Charme von NFL ist bald passé. Bald wird alles aussehen, als sei es eben erst der chemischen Reinigung anheim gefallen: der Blick auf die Altbundesländer zeigt, wohin die Reise geht: Alles clean, steril, keimfrei. Selbst Natur mit Wald und Flur alles besenrein!
Seit jenem Schlüsselerlebnis Chicago werde ich nicht müde, diese Relikte der alten Welt und das rapide sich Wandelnde mit Foto und Filmkamera festzuhalten. Und ich finde, all das ist für mich im Moment spannender, aufregender, beeindruckender als alles, was man in der ausufernd exzessiven Kunstlandschaft unserer Tage vorfindet.
Es ist vermutlich die Authentizität des real Sichtbaren (Oscar Wilde läßt grüßen: „Das wirkliche Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare!“), das mich – im Wissen um seine Vergänglichkeit, seine Unwiederholbarkeit und im Gegensatz zu Cyberspace (William Gibson) und Virtual Reality – so außerordentlich fasziniert.
Allerdings, neben diesem Konstatieren und Registrieren authentischer Bilder (wenn es denn so etwas gibt) – ich sehe es im übrigen als eine Art von Naturstudium an –, beschäftigt mich ein sozusagen privater Feldzug, der symbolisch ein Akt von Zerstörung, von Auslöschung jener knallbunten wie sinnlosen Reclamewelt oder eine Art Recycling genannt werden könnte, nämlich das großflächige Übermalen solchen Schunds, ein Akt, der sich aber hoffnungslos einer Übermacht von Konsum und Kommerz gegenübersieht und sich damit einordnet in das Geschäft der Künstler als Hofnarren einer Gesellschaft, in der selbst der heftigste Eklat noch sich einbindet in affirmatives Verhalten zum Establishment.
Damit bin ich wieder bei Beuys und seiner Utopie von gesellschaftlicher Veränderung, denn so engagiert, wie bisweilen spektakulär seine Kunst auch immer bornierte Konventionen attackierte und tradierte Normen über den Haufen warf, so wenig war sie gefeit gegen Vereinnahmung von fremder Seite (5), und so ohnmächtig schien mithin ihr insistierendes Rütteln an den etablierten Verhältnissen.
Aber wenn auch der Beuyssche Traum von einer humaneren Gesellschaft selbst zur bevorstehenden Jahrhundertwende noch nicht realisiert sein wird (6), wenigstens im engen Zirkel der zeitgenössischen Kunst selbst blieb sein Werk nicht ohne weitgreifende Wirkung, ganz sicher nicht zuletzt dank Beuys’ eigener – mit Verlaub – höchst geschickter PR Aktivitäten. Die engagierten Bemühungen seiner Freunde und Förderer taten ein Übriges, und nach eindrucksvollen Ausstellungen zu seinen Lebzeiten schon wie späterhin, darunter „Beuys vor Beuys“ oder „Mit, neben, gegen Beuys“ u.a. dachte ich, warum nicht auch mal das Motto „Beuys ohne Beuys“, unter dem die heute von mir vorgestellten eigenen Film und Fotoarbeiten auch gesehen werden können.
Damit aber noch transparenter, noch überzeugender deutlich wird, worum es bei „meiner“ Beuys Landschaft eigentlich geht, gestatte ich mir, Ihnen vorab einen Vorspann zu zeigen, der auf das „Kleingedruckte“ meiner Einladung Bezug nimmt und – mehr atmosphärisch – Einblick in den Sinn und Unsinn von Multi Media gewähren könnte, ohne das Thema auch nur annähernd zu erschöpfen. Es handelt sich dabei um einen Extrakt ausgewählter TV Mitschnitte aus Kunst- und Kulturmagazinen von ARD und ZDF vom Herbst 1992 bis Ende 1994. Er veranschaulicht u.a. jenen ungeheuren Aufwand an Hard- und Software, der mir immer suspekt ist, weil er echte künstlerische Auseinandersetzung eher verhindert als fördert. Um nicht mißverstanden zu werden: Auch ich bin nicht gegen Hightech, aber der Aufwand an eingesetzten Mitteln muß in einem angemessenen Verhältnis zum erklärten Anspruch wie zum realisierten Ergebnis stehen. Das gilt immer, glaube ich, auch für die Kunst, und zwar für jede! Auch hierin übrigens ist Beuys beispielhaft!
1) Heiner Stachelhaus, Joseph Beuys, Leipzig 1989, S.100.
2) Vgl. dazu auch :Gerhard Schulze, Kultursoziologie der Gegenwart, 1993.
3) Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Bd.1 Frankfurt am Main 1993, S.338
4) Dieter Wellershoff: Wahrnehmung und Phantasie. Köln 1987, S.50.
5) vgl. John Perreault über Beuys, in: Götz Adriani, Winfried Koonertz, Karin Thomas: Joseph Beuys - Leben und Werk, Köln 1986, S.350 ff.
6) vgl. Heiner Stachelhaus, a. a. O., S. 247
Veröffentlicht in Roland R. Richter: NOTATE, Reden, Vorträge, Aufsätze, Briefe, 1988–1998, hrsg. am Institut für Kunstpädagogik der Universität Leipzig, 1999