Lob der Serie
Günther Regel
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „INTERN-EXTERN MALEREI + FOTO SERIEN 1986-99"
am 9.10.1999 in der Osterburg Weida
Als ich zusagte, zur Eröffnung dieser Ausstellung ein paar Worte zu sagen, leichtfertig und voreilig, wie sich bald herausstellte, da hatte ich wohl im Sinn, Roland Richter und die großen Etappen des, wie ich finde, erstaunlichen Werdegangs seiner Kunst vorzustellen. Da hätte ich anknüpfen können an die Ausstellung seiner Arbeiten, die vor reichlich 10 Jahren, in jener denkwürdigen Zeit kurz vor der Wende, in Leipzig eröffnet wurde. Wer bis dahin Roland Richter nur als subtilen Maler der äußeren, gegenständlichen Wirklichkeit kannte, der sah sich überrascht durch eine Bildwelt, die nun unverhüllt Auskunft gab über seine innere Wirklichkeit und sich von der Gegenständlichkeit weitgehend verabschiedet hatte – vorerst jedenfalls. Mich wundert es heute nicht, daß dieser kontrastierende Zusammenhang zwischen dem Inneren und dem Äußeren ein prägendes Moment seiner Kunst wie seiner Reflexion darüber geblieben ist, worauf ja auch der Titel dieser Ausstellung BILDER INTERN–EXTERN ausdrücklich anspielt. Es wäre gewiß interessant, der Frage nachzugehen, wie sich das Verhältnis zwischen dem Externen und dem Internen im Kunstwollen und in der ganzen Gestaltungsweise Roland Richters im Verlaufe seines Künstlerlebens entwickelt und gewandelt hat. Doch das mag einer späteren Retrospektive vorbehalten bleiben.
In dieser schönen Ausstellung ist die Erhellung des Lebens- wie des Werklaufes des Künstlers offensichtlich nicht so sehr gefragt. Ganz abgesehen davon, daß es ohnehin bedeutet hätte, Eulen nach Athen zu tragen, wenn ich Roland Richter hier im Kreise vorwiegend seiner Freunde und der Liebhaber seiner Kunst bekanntmachen wollte.
So will ich mich – und ich weiß wohl, auf welches Wagnis ich mich da einlasse -, den ausgestellten Bildern selbst zuwenden und Sie, meine verehrten Anwesenden, teilhaben lassen an meinem Versuch, Zugang zu dieser Ausstellung zu finden; einen Zugang, der, wenn es gut geht, vielleicht nachvollziehbar ist oder, besser noch, der Sie womöglich anregen könnte, selbst produktiv zu werden und beim Betrachten eigene Wege zu gehen. Denn das ist nötig, zumal bei solch anspruchsvoller Kunst, die sich vermutlich von der den meisten gewohnten Bildsprache der tradierten Kunst in mancher Beziehung unterscheidet. Was ist denn das Betrachten, das Rezipieren von Kunst anderes, als ein lustvolles Bemühen, aus und mit dem Bildwerk für sich etwas Eigenes zu machen, indem man es in seiner Wirkung zu erleben und damit zu verstehen und schließlich zu genießen versucht?
Und hier, bei den Bildern dieser Ausstellung mit den vielen auffällig kleinen Formaten will nicht nur das einzelne Bild für sich betrachtet werden – das gewiß auch, denn es sind kostbare Perlen darunter, die nicht nur alleine bestehen können, sondern so erst ihren besonderen Reiz gewinnen und ihre ganz eigene Qualität offenbaren -, gemeint ist aber vor allem immer die ganze Serie, in der das einzelne Bild seinen Platz hat. Und alle diese Serien zusammengenommen, vier an der Zahl, könnte man als Partitur begreifen.
Paul Klee hat sogar das einzelne Bild als Partitur verstanden: als ein vom Künstler vorgegebenes Gefüge von Formen und Farben, mit dem sich der Betrachter auseinandersetzen, das er „lesen", dessen Energien er freisetzen, das er zum Klingen, zum Sprechen bringen und schließlich für sich interpretieren und damit in gewisser Weise neu produzieren muß. Die Partitur ist sozusagen das, was man sieht, aber eben nicht schon das fertige Werk. Das entsteht vielmehr erst im Kopfe des Betrachters, der sich, wenn er etwas haben will von der Ausstellung, in jedem Falle ein eigenes Bild machen muß.
Wenn wir bei dieser Metapher Partitur noch ein wenig bleiben wollen, dann läßt sich die ganze Ausstellung begreifen als ein Opus aus vier Sätzen, ein Werk aus vier Bildreihen, die zusammengehören und ein Ganzes bilden. Und das macht durchaus Sinn, denn so wird deutlich, daß da nicht irgendwelche und beliebig viele Bilder ausgewählt und in einer zufälligen Abfolge gezeigt werden, daß Malereien und Fotografien – eine ja durchaus nicht alltägliche Kombination – keineswegs willkürlich zusammengebracht sind. Der Bildermacher Roland Richter erweist sich zugleich als versierter Aus Stellungsmacher, der auch dabei ein Konzept verfolgt und umsetzt, der Beziehungen herstellt zwischen den einzelnen Bildern einer Serie und zwischen den Serien und dem Ganzen. Da gibt es harte Kontraste zwischen den elektronisch gesteuert zustandegekommenen technisch perfekten Fotos und den aus geringen Materialien quasi „handgemachten", farbig reduzierten sogenannten Erdmalereien, scharfe Schnitte zwischen den Serien und weiche Angleichungen innerhalb von diesen. Da wird gezeigt, um etwas zu verbergen, und verborgen, um etwas zu zeigen oder ahnen zu lassen. Da gilt Paul Klees Diktum, wonach Kunst nicht das Sichtbare wiedergebe, sondern Unsichtbares sichtbar mache, ebenso, wie Oscar Wildes Überzeugung, daß das wahre Geheimnis der Welt nicht das Unsichtbare, sondern gerade das Sichtbare sei. Da gibt es die kalte, nüchterne Eindeutigkeit der faszinierenden architektonischen Scheußlichkeiten einer „windigen", einer gefährlichen, unwirtlichen, gleichwohl anziehenden amerikanischen Großstadt und, im Kontrast dazu, die desolate, aber irgendwie anheimelnde Brüchigkeit des vom Verfall gezeichneten, gleichwohl ästhetisch reizvollen ehemaligen DDR-Milieus, das bald gänzlich abgeräumt und womöglich durch eine keimfrei saubere, sterile Umwelt ersetzt sein könnte.
Hier sei mir eine Anmerkung gestattet: Als Roland Richter einmal mit Bezug auf die dem Verfall preisgegebene ehemalige DDR-Umwelt, natürlich polemisch scharf zugespitzt, von der „flächendeckenden Beuys-Landschaft" in „Neufünfland" sprach, da hatte er einen Streit provoziert, der leider nur einen kleinen Kreis von Fachleuten ereiferte, der aber im Hinblick auf die Kunstvermittlung hätte Anlaß sein können, exemplarisch darüber nachzudenken, worin denn der Unterschied zwischen der vermeintlichen Dürftigkeit und Formlosigkeit Beuys'scher Kunst und der Brüchigkeit, Abgenutztheit und Schäbigkeit alltäglicher Dinge, also zwischen der Kunstwirklichkeit und der realen Wirklichkeit tatsächlich besteht. Aus solcher Einsicht hätte dann Gewinn gezogen werden können für die Rezeption jener zeitgenössischen Kunst, der man oft nicht ansieht, daß es sich tatsächlich um Kunst handelt. „Das soll Kunst sein?" und „muß Kunst denn nicht wenigstens schön sein?", wird dann oft gefragt. Daß hinter solchem Zweifel das Bedürfnis steht, nicht alles und jedes unbesehen hinzunehmen und bloße Machwerke, die heute oft genug als Kunstwerke ausgegeben werden, obgleich ihnen jede künstlerische Qualität fehlt, als solch auch zu erkennen, das steht ja doch außer Frage. Ich kann mir übrigens durchaus vorstellen, daß auch manche der hier ausgestellten Arbeiten solch eine Auseinandersetzung um das, was das Künstlerische ausmacht an der Kunst, provozieren könnte. Und das wäre nicht das Geringste, was man der Ausstellung und dem Künstler wünschen möchte.
Um auf die Ausstellung zurückzukommen: So, wie sie konzipiert ist, muß man sie genaugenommen begreifen als eine Fortführung jener Intentionen, denen Roland Richter auch beim Bildermachen folgte, sie ist selbst Teil der formgewordenen, der gestalteten Aussage jenes ungeformten, zum Ausdruck drängenden Bildes von der Welt und der Zeit, das der Maler in sich trägt. Um nicht mißverstanden zu werden: es war keineswegs so, denke ich, daß Roland Richter vor knapp anderthalb Jahrzehnten dieses in sich schlüssige Ganze konzipiert und dann gleichsam Schritt für Schritt abgearbeitet hätte. Nein, das hat sich vielmehr so ergeben, worüber gleich noch zu sprechen sein wird. Und aus der Fülle der im Verlaufe der Jahre entstandenen Bilder, die sich allmählich zu Reihen fügten, wurde dann aus heutiger Perspektive und aktueller Gestaltungsabsicht ausgewählt, zugeordnet, zusammengestellt und das Ganze unter Ausnutzung der gegebenen Möglichkeiten der Ausstellungsräume inszeniert.
Die Ausstellung singt der Serie geradezu ein Loblied. Und das nicht von ungefähr. Roland Richter hat in einem längeren Notat festgehalten, was ihn an der Serie als Gestaltungsmittel reizt. Darin heißt es: „Die Suche nach immer anderen Formulierungen, immer prägnanterem Ausdruck dessen, was mich zum jeweiligen Thema bewegt, ohne dabei die einzelne einmal gefundene Lösung in ihrer Selbständigkeit völlig zu verwerfen, die eigentlich aber ihre volle Bedeutung erst als integrierender Teil eines Gesamtprozesses erhält, nämlich, indem sie als eine Facette zum Sichtbarmachen meines Grandkonzepts einen mir wesentlichen gestalterischen Beitrag liefert, d. h. eines Problemkomplexes, der mich zumeist längerfristig umtreibt, oft über mehrere Jahre hinweg. Das dabei benutzte Formenvokabular variiert innerhalb der ganzen Serie – da allemal einem bestimmten Grandgedanken verpflichtet – naturgemäß äußerst minimal. Das Arbeiten mit entsprechend feinen Unterschieden' beim Einsatz der gestalterischen Mittel gestattet mir hierbei nicht nur, das Ausdrucksspektrum der gesamten Serie ergänzend und bereichernd auszuweiten, sondern vor allem auch sicherer zu entscheiden, was als gute und gültige Lösung innerhalb der Reihe verbleiben kann oder was, weil unter Umständen als in der Qualität zu schwach, eben wieder ausgesondert werden muß." Und die Aufzeichnung endet: „Da ist ganz offensichtlich Freude am Verwandeln eines jeweils bestimmten Formkanons im Spiel. Aber eben auch jene Ernsthaftigkeit solchen Spiels mag einem gleichermaßen nicht ganz verborgen bleiben, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Künstler in immer wieder neuem Anlauf dem stets gleichen Thema eine andere Seite, eine so noch nicht erfaßte Sicht abzugewinnen versucht, und dabei – natürlich – nie die Gewißheit verspürt, jemals ganz ans Ziel zu gelangen. Das Arbeiten mit der Serie kündet also stets auch etwas von der Vergeblichkeit künstlerischer Bemühung, analog zur Unvollkommenheit unserer menschlichen Existenz." Was sich so anhört, zunächst jedenfalls, als ginge es lediglich um ein Formproblem, das ihn immer und immer wieder beschäftigt hat, das muß man richtig verstehen. Für den Künstler geht es letzten Endes immer um die Form, aber doch nicht um die Form als solche, sondern vielmehr um die gelingende Form für das Inhaltliche, das ihn umtreibt, das er zum Ausdruck bringen und sichtbarmachen will.
Die Frage ist nun, um welches Thema, um welches übergreifende inhaltliche Anliegen geht es denn bei diesem Opus aus vier Sätzen? Was hat Roland Richter in all den Jahren, in denen diese Arbeiten entstanden sind, bewegt, was hat ihn nicht losgelassen, was hat ihn umgetrieben?
In der Regel lassen sich auf dergleichen Fragen nur Mutmaßungen ins Feld führen, kaum rational erklär- und begründbare Beweggründe, und das ist auch gut so. Doch hier findet sich ein Schlüssel zur Antwort, auf den übrigens Roland Richter in der Einladung, wohlweislich durch die Typografie ein wenig verfremdet, selbst verweist: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien.
Nicht etwa, daß Roland Richter vorgehabt hätte, Rilkes Meisterwerk aus der Frühzeit der Moderne – die wir heute die klassische nennen – zu illustrieren. Dazu hätte sich auch, nebenbei gesagt, diese handlungsarme, wehmütig-klagende Gefühlslyrik mit ihrem ganz und gar unkonventionellen, ungereimten Versmaß am allerwenigsten geeignet. Eher trifft wohl zu, daß er sich mit seiner Befindlichkeit, mit seinem Fühlen und Denken, mit seiner ganzen Art, die Welt anzuschauen, sie zu erfahren, ja sie zu ertragen, aber auch, sich trotz allem an ihr zu erfreuen in gewisser Weise wiederfand in eben dieser Dichtung Rilkes. Die bringt, poetisch reflektiert, wie kaum ein anderes seiner Werke das Krisenbewußtsein der Menschen damals und die beileibe ja nicht nur eingebildete Gefährdung menschheitlicher Ideale zum Ausdruck:
WER, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Es ist schon bezeichnend, daß Roland Richter diese sieben Verszeilen, mit denen die erste der zehn Elegien beginnt, seiner Ausstellung als Motto zugrundelegt. So versteht sich der Titel der Bilderserie „Elegien" nicht etwa als Erklärung dessen, was da zu sehen ist in den dazugehörigen Malereien, sondern eher als Hinweis auf den Kontext, in dem diese, der Entstehungszeit nach erste Serie, dann aber auch alle anderen betrachtet werden wollen. Wenngleich die drei weiteren Serien inhaltlich und formal andere Akzente setzen, so gewinnen sie doch erst ihren rechten Sinn, wenn man sie im Zusammenhang mit der ersten, der Ouvertüre, der Eröffnung des Ganzen begreift.
Die Entfremdung des Menschen inmitten einer nicht mehr durchschaubaren, einer unübersichtlich gewordenen, einer technisierten und perfektionierten, einer kalten und von Widersprüchen zerrissenen Welt. Das gestörte Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit, zur Natur, zu seinen Mitmenschen und schließlich auch zu sich selbst. Der Umstand, daß unter den gegebenen Verhältnissen heutzutage alles, aber auch alles, der Mensch, die Arbeit, die Bildung und selbstverständlich auch Kultur und Kunst so gut wie ausschließlich nach dem Marktwert bemessen und beurteilt werden. Die Sorge, daß wir Menschen uns an all das Schreckliche gewöhnen, daß wir gleichgültig werden könnten, daß uns die Bewahrung des Schönen und des Authentischen und Kreativen in unserem Handeln künftig nicht gelingen werde.
Angesichts dieser schreienden Wirklichkeit auszubrechen aus der persönlichen Bedrückung und Lähmung, wenn schon nicht im realen Leben, so doch wenigstens in der eigenen Kunst – das ist für mich das große, alles übergreifende Thema, das die künstlerische Arbeit Roland Richters in dem fraglichen Zeitraum und damit auch diese Ausstellung geprägt hat. Und dies gilt erst recht, wenn man auch die größeren Arbeiten einbezieht, die außerhalb oder parallel zu diesen Serien entstanden sind und hier nicht oder nur mit wenigen Exemplaren gezeigt werden.
Dazu gehört übrigens auch eine Reihe von Bildern, die ursprünglich für diese Ausstellung gar nicht vorgesehen war und erst bei deren Aufbau hinzugekommen ist, in letzter Minute sozusagen, als Reaktion auf die vorgegebenen Ausstellungsräume. Diese Bilder sind erst kürzlich entstanden, an einem einzigen Tage, fünf auf einen Streich. Der hintergründige und doppelsinnige Titel dieser Reihe: „Malgründe." Malgründe, das sind eigentlich mit einer Grundierung behandelte Bildträger für eine Malerei, also in gewisser Weise lediglich maltechnisch vorbereitete „neutrale" Leinwände, Pappen oder Papiere. Nicht so in diesem Falle. Hier werden karge Malereien zu „Malgründen", zu farbig bewegten Vorgaben für einen erst noch erfolgenden „Malprozeß" – aber den soll, den muß der Betrachter leisten! Er soll das Gesehene aufgreifen und „weitermalen", soll seine Einbildungskraft walten lassen und sich schließlich im Kopfe ein eigenes Bild machen. Eine Herausforderung zur Aktion, die zwar für jegliche Kunstbetrachtung gilt, hier aber für die ganze Ausstellung geradezu programmatische Bedeutung gewinnen könnte. Den Titel „Malgründe" wird man aber zum anderen wohl auch als Metapher verstehen müssen: als versinnlichte Anspielung nämlich auf die Ursachen, auf die innersten, verborgensten „Beweggründe" für das Malen. Zugegeben, die eine wie die andere Bedeutung des scheinbar so simplen, aber verfänglichen Titels „Malgründe" – von den dazugehörenden Bildern selbst ganz zu schweigen – bringt möglicherweise den arglosen, auf Kunstgenuß hoffenden Betrachter in ziemliche Verlegenheit. Soviel aber ist sicher: hier geht es um eine unmißverständliche Aufforderung, dem Anliegen, dem hier in der Ausstellung auf so unübliche Weise nachgegangen wird, gehörig auf den Grund zu gehen.
Und noch etwas ist in unserem Zusammenhang aufschlußreich: Die Literaturgeschichte weiß zu berichten, daß sich Rilke damals in einer psychischen und schöpferischen Krise befand, wozu gewiß auch die äußeren Umstände beigetragen haben mögen: Krieg, Nachkrieg, die Novemberrevolution, die er übrigens begrüßte – wie Klee und manch andere Künstler der Moderne auch – und all die damit zusammenhängenden schrecklichen Erfahrungen, die ihm selbstverständlich psychisch zusetzten, die seine Weltsicht und sein Zeitempfinden und in der Folge, vielfach vermittelt, auch sein Dichten beeinflußten. Mit den 1922 beendeten Duineser Elegien habe sich Rilke im Sinne einer gelungenen Selbsttherapie aus einer tiefen Resignation herausgearbeitet. So habe er nicht nur das Glück der Vollendung seines Werkes erlebt, sondern auch, was seine ganze Art zu sein betrifft, eine neue Balance zwischen Klage und Jubel gefunden.
Zwar will ich nicht etwa die Entstehungsgeschichte von Rilkes großem Klagegesang mit dem Werden von Roland Richters Bilderserien unmittelbar vergleichen, aber – von Qualität und Rang beider Werke einmal ganz abgesehen – eine Analogie gibt es durchaus. Ich weiß nicht, ob es sich bei dem Zeitraum, in dem diese Bilderserien entstanden sind, bei Roland Richter desgleichen tatsächlich um das Herausarbeiten aus einer Lebens- und Schaffenskrise handelte, aber im nachhinein spricht vieles dafür. Ich erinnere mich an ungezählte persönliche Begegnungen mit ihm, an manches vertrauliche Gespräch, das wir in der Endzeit der DDR, vor, während und nach der „Wende" und der deutsch-deutschen Vereinigung miteinander führten. Da lagen stets Hoffen und Bangen, Freude und Niedergeschlagenheit, Sich-Abfinden mit den Verhältnissen und inneres Aufbegehren, das gefühlte Wissen über drohende Verluste und wahrscheinliche Gefährdungen, aber auch über ungeahnten Gewinn und über die Eröffnung neuer Möglichkeiten ganz dicht beieinander. So erschien mir der eingangs erwähnte tiefgreifende Wandel in seiner Gestaltungsweise, den ich buchstäblich als Augenzeuge verfolgen konnte, im Grunde genommen durchaus plausibel: Er war eine Konsequenz aus dem, was sich im Ich, in der Persönlichkeit, in den unbestimmten, unbewußten Gefühlen, Wünschen und Antrieben, aber auch in den bewußten, vorausschauenden Denk- und Willensprozessen und in den Handlungsabläufen ereignet hatte. Da kam etwas zum Vorschein in seiner Kunst, das zwar vorher schon da war, aber von der gekonnt gemachten Darstellung des Gegenständlichen und deren womöglich theoretisch fragwürdiger Rechtfertigung weitgehend verdeckt oder zurückgedrängt worden war: nämlich jenes ungebremste Ins-Spiel-Bringen aller den Formen und Farben eigenen anschaulichen und psychisch-geistigen Wirkungsmöglichkeiten.
Das Gegenständliche trat weit in den Hintergrund, folgerichtig – möchte man fast sagen, wenn es im psychischen Geschehen so etwas wie Logik gäbe -, aber es wurde nicht völlig aufgegeben. Zum bevorzugten Mittel der gegenständlichen Gestaltung wurde dann sehr bald die Fotografie. Die ist bei ihm, so absichtsvoll konventionell sie auch gemacht ist – ohne alle technischen Tricks und Raffmessen und ohne jede Inszenierung -, alles andere als bloße Dokumentation von Sachverhalten. Vielmehr ist sie ihm das Medium geworden, mit dem er festhält, was er in der realen Wirklichkeit entdeckt an zwar immer auch ästhetisch reizvollen, aber vor allem an sinn- und symbolträchtigen Figurationen. Durch die Art und Weise, wie diese ins Bild gebracht sind, mutieren sie gleichsam zur Kunstform: zu vielsagenden Bildern, die etwas aussagen über die Befindlichkeit, über die innere Welt des Fotografen. Und da ist man wieder bei dem, was Roland Richter inhaltlich umtreibt und als Bildermacher antreibt.
Was seine Kunst für mich so gegenwärtig, so zeitgenössisch macht, das ist, inhaltlich gesehen, daß er dem allgemeinen Sog der postmodernen Beliebigkeit trotzt und das Aufklärerische der Moderne nicht aufgibt, ihm vielmehr auf den Fersen bleibt, indem er nämlich mit seiner Kunst bemüht ist, zum erkennenden Erleben und damit zum Verstehen der Welt beizutragen, und zwar in einem Sinne, der das Rationale nicht ausschaltet, wohl aber an die Kandare nimmt und integriert. Und hinsichtlich der formalen Gestaltung sind es vor allem zwei Momente, die seit etwa den 60er Jahren dem zeitgenössischen Kunstwollen vieler Künstler, übrigens weitgehend unabhängig von deren Stil und Gestaltungsweise, nahezu weltweit eigen sind, die ich bei Roland Richter, und eben gerade in dieser Ausstellung, wiederfinde: Einmal die Betonung des Prozeßcharakters der Kunst, durch die der Kunstbetrachter – wie schon gesagt – als der Vollender dessen, was der Künstler vorgegeben hat, begriffen wird, mitunter sogar so sehr, daß er im wörtlichen Sinne in die Rolle des Mitproduzenten gerät. Zum anderen ist es die betonte Wertschätzung des unverbrauchten und armseligen Materials als Gestaltungs- und Ausdrucksmittel, und zwar im wohl kalkulierten Gegensatz zu jenen Kunstäußerungen, die auf nüchterne Klarheit und Logik der gestalteten Form setzen und damit eine gewisse distanzierende Entpersönlichung der künstlerischen Äußerung in Kauf nehmen. Und schließlich – lassen sie mich das ausdrücklich noch hinzufügen -, als im besten zeitgenössischen Sinne modern empfinde ich auch, daß es ihm gelungen ist, sich selbst mit seiner Kunst gleichsam am eigenen Schöpfe aus dem Strudel von Wehleidigkeit und Verzagtheit, Selbstzweifel und Stagnation herauszuziehen.
Roland Richter ist offensichtlich der Durchbruch zu einem Künstler der Moderne gelungen, meinetwegen auch zu einem Künstler der zweiten Moderne, jener Moderne jedenfalls, die über ihre Defizite und ihre – im konkreten Falle auch aus der DDR-Provenienz herrührenden – Versäumnisse reflektiert und befreit von allen formalen und ideologischen Dogmen selbstbestimmt auf die Wirklichkeit reagiert, auf die innere Welt der Menschen, der Zeitgenossen nämlich, die allemal für den Künstler die eigentliche Wirklichkeit ist oder jedenfalls sein sollte.
Ich wünsche der Ausstellung viel Erfolg und Roland Richter jene Bestätigung und Genugtuung, die einer ab und an braucht, der in unserer durch und durch geregelten und perfektionierten Wirklichkeit vom Kunstmachen als Abenteuer und als gelegentlichen Verstoß gegen überkommene Regeln und Konventionen offensichtlich nicht mehr lassen mag.