Chaos und Kalkül

Harald Kunde

Katalogtext zur Ausstellung „INTERRADISIENA“ – Übermalungen und andere Arbeiten
Universität Leipzig Galerie im Hörsaalbau 31.08. – 5.10.1991

Die Findung einer Sprache, die der Offenheit dieser bildnerischen Formgefüge angemessen, die der Nuanciertheit dieser Farbstufungen adäquat wäre, führt in Versuchung, der vereinbarten semantischen und syntaktischen Koordinaten sich zu entledigen und der rhythmischen Wirkung der Laute, Pausen, Tonstärken zu vertrauen. Doch selbst gesetzt, dies gelänge, bliebe zu befürchten, daß bestenfalls ein Parallel-Erlebnis sich einstellte, das wenig mehr an verstehender Nähe erzeugte als ungefähre, mitschwingende, synästhetische Empfindung. Erhellender dagegen scheint ein verbaler Gestus, der der Sprache kommunikative Konventionen beläßt und von dort aus strukturelle Impulse dieser Arbeiten fruchtbar zu machen sucht: Als Prozeß des Sprechens, das den Mut zur vielsinnlichen Wahrnehmung aufbringt, das durch kein Ziel gesicherten Erkundungen sich aussetzt, das im Fortgang seines Dauerns erst sich selbst bewußt wird. Ein solches Sprechen geriete in innere Fühlung zur Art und Weise der Richterschen Bildproduktion und eröffnete vielleicht die Möglichkeit, das Erleben ihrer Resultate sagbar zu machen.

Erste Anmutungen beim Betrachten der neueren, großformatigen Arbeiten: Hier malt jemand, der den unbewußten Kräften des Zufalls eine weite Strecke des Wegs vertraut, der sein inneres Wollen offenhält für die Angebote des Materials, für die Bedürftigkeit einer zu übermalenden Vorlage, für den flächendefinierenden Charakter einer gesetzten Pinsel-spur. Der den horror vacui des leeren Formats in Schüben von eruptiven Vorstößen austreibt und das Papier, das Leinen mit jener assoziationsreichen Patina bedeckt, die erst Raum für bewußte bildnerische Entscheidungen schafft. Diese Entscheidungen jedoch bezeugen den hohen Grad an bildstiftender Organisationsfähigkeit, über den Roland Richter verfügt, und der in hellwachen Setzungen amorphe Ausgangszustände in souveräne, eigengesetzliche Gebilde überführt. In diesen Phasen, da die noch unentschiedene Fülle des Ursprungs sich komprimieren und konzentrieren muß in kompromißlose Notwendigkeit, werden inhaltliche Intentionen wirksam und spürbar: Für den Macher freilich meist implizit, als dunkles Movens der Form; für den Betrachter jedoch, der erreichbar ist für die stillen Sensationen der „heiligen Fläche", als Innewerden der so und nicht anders strukturierten, also absichts- und bedeutungsvollen bildnerischen Ganzheit.

Und schon diese Ganzheit selbst, dieses Befrieden aller formsprengenden Tendenzen im Geviert des Formats weist über bloße Faktizität hinaus: Hier ringt einer noch um ordnenden Zugriff, liefert dem unfaßlichen Chaos der Welt und des Selbst nicht affirmativ sich aus, sondern hält gegen im Insistieren auf der macht-losen und doch nicht ohnmächtigen Wirkung des autonomen Bildes. Nur folgerichtig dann die hochgradige Differenziertheit, das bedachte Ausloten aller diesen Werkbegriff tragenden Komponenten: die meist gestaltkonstituierende Spannung zwischen informell tobendem Grund und den energischen Eindämmungen durch Kreuze, Winkel, Diagonalen; die Entfaltung der Farbkontraste, teils als kirchenfensterähnliches Glühen aus schwarz vergitterten Fassungen, teils als empfindsame Modulation verwandter, oft erdfarbener Töne; schließlich übergreifend die unablässige Schaffung eines beziehungsreichen Zusammenhangs, der als Gegenentwurf zur Heterogenität der Wirklichkeitsfetzen auf der Sinnhaftigkeit einer abgehobenen Gestaltung besteht.

Dies mag im Kontext postmoderner Konzeptionen schnell als obsolet beargwöhnt werden, legitimiert sich aber bei genauerem Zusehen eindrucksvoll durch die langwährende Intensität, mit der Roland Richter sein Werk aus einem gänzlich anders gearteten Resonanzraum in seine jetzige Beschaffenheit trieb. Denn selbstredend definierte auch das Richtersche Kunstwollen sich nicht vollständig aus sich selbst, sondern war eingebunden und verstrickt in gesellschaftliche Funktions- und Sinnzuweisungen an bildende Kunst in diesem Lande. So mühte auch er sich lange Jahre, mit den Mitteln eines bis zum Ende des 19. Jahrhunderts tradierten und tauglichen Kunstmodells hiesiger Erfahrungen habhaft zu werden; ein Unterfangen, dessen prinzipielle Problematik durch die Abgeschirmtheit der herrschenden Verhältnisse ebenso potenziert wurde wie durch Zwangsläufigkeit, mit der künstlerische Äußerungen in totalitären Strukturen auf „Inhaltlichkeit" hin konzipiert und befragt werden. Gleichwohl speiste sich auch hier die jeweilige Formgestalt aus der individuellen Eigenart, der subjektiven Kontingentierung des Bildermachers; im Falle Roland Richter hieß das, daß ein dingpräzises Darstellungsvermögen genutzt wurde, um einschichtige Lebensentwürfe kritisch zu befragen, Physiognomien schonungslos auf den Grund zu gehen, Stilleben und Landschaften gleichnishaft einzusetzen. All diese Bilder prägt ein grüblerischer Gestus, eine Schwere und Ernsthaftigkeit, die Reflex der Umstände sind ebenso wie Spiegel der persönlichen Verfaßtheit: Einer zunehmenden staatspolitischen Distanz, untermauert noch durch Verhaftung und Ausreise naher Künstler-Freunde; einem Unbehagen am eigenen Dasein, das zuzeiten wohl als inkonsequent empfunden wurde in seiner Diskrepanz zwischen Künstlertum und universitärer Sekurität und das zudem in seinem künstlerische, wissenschaftliche und schulpraktische Arbeit integrierenden Anspruch den naturgemäß problematischsten zu realisieren suchte, der tendenziell unlebbar ist. Hier deuten sich Konflikte an, die im Laufe der Jahre sich immer stärker verdichten und schließlich eine existenzielle Krise heraufbeschworen, die aber heute, mit der Erfahrung ihres Überwindens, als der späte und deshalb desto notwendigere Durchgang zu sich selbst erscheint.

Sinnfälligster Ausdruck dieser Selbstfindung ist der grundlegende Wandel des bildnerischen Denkens und seiner Resultate, der sich im Vorfeld und während der kritischen Lebensphase vollzog und dessen Ansätze seitdem konsequent verfolgt und bereichert werden. Und dennoch ist dieser Wandel weniger ein abrupter Bruch als vielmehr ein Sprung, der um die Berechtigung der vorangegangenen Stufe weiß. So wirken alle Komponenten der Form, nicht nur die gegenständliche auch in den früheren Bildern schon, aber sie führen ein gleichsam unerlöstes Dasein unter der Botmäßigkeit eines benennbaren Sujets, unter dem Diktat der sichtbaren, weniger der inneren Realität. Und es gibt die unverzichtbaren Zwischenstufen, auf denen der Weg hin zum autonomen Bilderorganismus auf verschiedene Weise beschritten wird: Zum einen in einer Vielzahl von Aquarellen, die im Eichsfeld und auf Rügen vor Landschaften entstanden, die dem inneren Anliegen schon durch ihre äußere Gestalt entgegenkommen; zum anderen in Übermalungen von Postkarten und Werbematerialien, die in ihrer grellen Banalität den Mut zur eigenwertigen Formsetzung stärkten.

Doch trotz dieser angedeuteten Verbindungslinien haben die seitdem entstandenen Arbeiten etwas, was den früheren fehlt: Sie sind ungleich frischer und von lebendiger Unmittelbarkeit, und das Strömen und Rinnen ihrer Farben, das Schwingen ihrer Formen mag auch dem Betrachter, der angesichts ihrer narrativen Verweigerung rat- und sprachlos ist, als organischer Impuls sich mitteilen.