„Denn, wahrhaftig , die Kunst steckt in der Natur.... “
(Albrecht Dürer)

Rainer Behrends

Einführung zur Ausstellung mit Landschaften etc.
am 14.Juni 2016 im Uniklinikum Haus 9 (José Carreras Haus)

Aus dem Oeuvre von Roland R. Richter zeigt diese Ausstellung Arbeiten aus einem Zeitraum von sechs Jahrzehnten, die ältesten entstanden 1953, die Folge endet im Jahre 2011. Der Künstler stammt aus Pürstein, einer Stadt im Egertal, an drei Seiten vom Erzgebirge umschlossen, heute Perštejn in Tschechien. Nach der Ausweisung und Umsiedelung begann er 1952 am neugegründeten Institut für Kunsterziehung der Universität Leipzig ein Studium der Kunstpädagogik, das er 1956 abschloss. Seinerzeit war es ein Einfachstudium mit umfassender Ausbildung in Fächern der bildenden Kunst mit ausgedehnter eigener bildkünstlerischer Praxis neben kunstwissenschaftlichen und pädagogischen Studien, durchaus nicht unähnlich der Ausbildung an einer klassischen Kunstakademie. Gravierend war jedoch der Unterschied zur ortsansässigen und traditionsreichen Hochschule für Grafik und Buchkunst, die sich als Hort parteitreuer sozialistisch-realer Kunst verstand. Am universitären Institut hingegen wurden eher humanistische Positionen in der Lehre vertreten und bildnerisch die Verbindung mit der Kunst der zwanziger und frühen dreißiger Jahre gesucht. Dafür garantierten Lehrer wie Prof. Elisabeth Voigt, einst Meisterschülerin der Käthe Kollwitz und Carl Hofer eng verbunden, Hans Schulze, der u.a. von Kanoldt herkam oder der dem Spätimpressionismus zugewandte Heinz Olbrich. Dazu die damals junge Schriftkünstlerin Irmgard Horlbeck-Kappler. Das alles garantierte ein ebenso schöpferisches wie offenes Klima, was sich alsbald grundlegend ändern sollte. Dennoch fand Roland Richter hier den Ort seines Wirkens als Theoretiker, Methodiker und Künstler in mehr als 40 Jahren von 1956 bis 1999. Allerdings führte die Doppelexistenz als Wissenschaftler und bildender Künstler zu Zwiespälten und Konflikten hinzu kam die ideologische Bedrängnis, der Künstler nennt es den„äußeren wie inneren Zwiespalt zweier Seiten meiner Person wie meines Tuns, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Lehre und Forschung, zwischen Kunstvermittlung und eigener Produktion, zwischen pädagogischer Verantwortung und autonomer Äußerung.“ Er endete in einer schweren existenziellen Krise.

In der Ausstellung sind überwiegend Landschaften zu sehen, ergänzt um einige Stillleben und Interieurdarstellungen. Landschaftsdarstellungen durchziehen das gesamte Oeuvre von Roland Richter; die Ausstellung bietet jedoch keine Chronologie seiner Landschaftsmalerei. Zu sehen sind vor allem Landschaften aus Mitteldeutschland, dem Eichsfeld und aus dem Ostseeraum, dazu solche aus der italienischen Toskana und aus dem Süden Frankreichs, aus der Provence. Damit wenden wir uns den Werken der Ausstellung zu und merken als erstes an, dass sie alle der direkten Naturerschauung verdankt werden. Ausgeführt sind sie als Aquarelle, deren in Wasser gelöste Pigmente fließend vermalt werden und nicht deckend auftrocknen, vielmehr lasierend, also quasi transparent wirken, auch wenn sie in Schichten übermalt werden. Eine gewisse Spontaneität des Schaffensvorganges zeichnet die Aquarellmalerei aus. Sie verwendet Roland Richter überwiegend für Arbeiten bis etwa 1995. Gouachefarben hingegen seltener, dann jedoch dominierend nach 2000. Bei Gouachen handelt es sich um wasserlösliche Farben aus gröber vermahlenen Farbpigmenten mit einem Kreidezusatz und Gummi arabicum als Bindemittel. Sie können deckend, ebenso auch lasierend verwendet werden und ergeben nach dem Trocknen einen matten, zugleich auch weichen Ton. Für Aquarelle und Gouachen werden vorwiegend Papiere oder Kartons als Malgrund verwendet.

Entstanden sind Roland Richters Malereien entweder direkt vor dem Motiv oder nach Studien in Skizzenbüchern mit Bemerkungen zu Farben, Materialstrukturen u.ä., nach denen dann unabhängig von der Konfrontation mit der Situation vor Ort die Arbeiten ausgeführt werden, also quasi in einer Ateliersituation und zwar häufig zeitnah zur Findung des Motivs und der mit ihm verbundenen optischen Eindrücke und subjektiven Empfindungen. Viele dieser Arbeiten entstanden bei gemeinschaftlichem „Landschaftern“ mit einer Gruppe von Kollegen während einem über lange Zeiten seit Mitte der siebziger Jahre jährlich wiederholten Pleinair im Eichsfeld, im Vogtland, Harz, Mecklenburg und schließlich im Muldental. Dazu bemerkt der Künstler: „[Ich] habe nie aufgehört, mich ... vor die Natur zu setzen, um unbeschwert ... all den Reichtum an Formen und Farben des gewählten Motivs zu studieren ... Es ist ... für den Künstler von Zeit zu Zeit notwendig, seine Vorstellungswelt mit neuen, unverbrauchten Eindrücken aufzufrischen“. Er spielt dabei auf Zwänge thematischer Art an, die in seinem Schaffen gegen 1985 zu einer Krisensituation führten. Es handelte sich darum, sagt Roland Richter, dass „inhaltliche Ideen den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildeten, zu denen ich dann gegenständliche Bildelemente suchte.“ Diesem Teufelskreis entkam er durch Reisen u.a. nach Bulgarien und Ungarn, ebenso durch Begegnungen mit dem genialen Zeichner Gerhard Altenbourg und dem Plastiker Volkmar Kühn und durch experimentelles Arbeiten, z.B. durch Übermalungen im Vertrauen auf den Prozess des Machens.

An dieser Stelle erscheint es angebracht, auf das Zitat Albrecht Dürers einzugehen, das den Titel der Ausstellung bildet. Es lautet: „Aber die Natur giebt die Wohrheit dieser Ding. Dorum sich sie fleissig an, richt dich noch den Complexen ... und geh nit in deinem Gutgedunken, noch dass du besser van dir selbs wollst finden ... Dann wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur. Wer sie heraus kann reissen, der hat sie. Die macht dich dann, dass du nit ganz fehlst.“ Sie gehören zu einem großen ästhetischen Exkurs, dessen Gedanken Dürer 1525 niederschrieb. Sie fanden Eingang in sein theoretisches Werk „Vier Bücher von menschlicher Proportion“, über dessen Drucklegung er 1528 starb. Sie sind als sein Credo zu bezeichnen. Was aber meinte Dürer mit „heraus reissen“? Zunächst rät er dazu, die Natur intensiv – er sagt „fleissig“ – anzuschauen und sie im Ganzen – er schreibt in den „Complexen“ – zu erfassen und nichts nach Gutdünken selbst zu erfinden, vielmehr durch zeichnendes Eindringen die Dinge zu verstehen, denn „reißen“ ist heute als zeichnen zu übersetzen. Es geht Dürer um des Verstehen von Zusammenhängen als entscheidende Grundlage des Naturstudiums. Und Roland Richters Haltung dazu:

„Was heißt Naturstudium heute? Naturstudium heute kann doch nur heißen, tiefer in die Welt des Sichtbaren, des Spür- und Fühlbaren um uns herum einzudringen, ... unsere erstarrten Bilder von der äußeren Oberfläche der Dinge aufzubrechen und … zu öffnen, … und produktiv zu befruchten.“ Zugleich weist er darauf hin, dass tradierte Methoden einer bloßen Abbildung ebenso ungeeignet sind wie Versuche zu einer Konkurrenz mit der Perfektion von Oberflächen in Bildern elektronischer Medien.

Die in der Ausstellung zu sehenden Arbeiten von Roland Richter erlauben, seine „Wege des Naturstudiums“ nachzuvollziehen. Angekommen 1952 in Leipzig, erfasst er zwar sensibilisiert, jedoch rein abbildhaft das, was er um das Institutsgebäude in der Bernhard-Göring-Straße erblickt: Trümmer und Leere, ebenso Hilfslosigkeit. Aber dadurch wurden diese Aquarelle auch zu Zeitzeugnissen. Gestalterisch nimmt das Bild mit der Trümmerbahn unter seinen Arbeiten eine Ausnahmestellung ein. Es ist ausschließlich in Grautönen gemalt bei weitgehendem Verzicht auf Details, was fachlich als Grisaille bezeichnet wird, als Malerei in trüben oder grauen Tönen, zugleich aber auch „in nur einem Farbton gemalt“ bedeutet. Ein derartiges Augenmerk auf formende Elemente an Stelle lediglich abbildender zeigt beispielsweise auch das in Gouachefarben gemalte Stillleben „Zwiebeln“. Interessant, dass Roland Richter derartige Arbeiten seltener oder überhaupt noch nie in Ausstellungen zeigte.

In den Landschaftsaquarellen der 1970er und 1980er Jahre von der Ostsee, aus dem Eichsfeld oder dem Rheinsberger Land trat immer stärker das Interesse des Künstlers an Erfassung der sinnlichen Momente und des Atmosphärischen seiner Motive hervor, gepaart mit dem Bemühen um bildmäßige Geschlossenheit, darum, Strukturen im Bild erscheinen zu lassen und weitgehend zu abstrahieren. Ein solches Absehen von bloßer Nachbildung des Sichtbaren, dafür die Hervorhebung charakteristischer strukturbildender Elemente seines Motivs wird in dem Aquarell „Alter Kreidebruch bei Nedderitz“ aus dem Jahre 1988 erkennbar. Zugleich lässt sich erkennen, dass angesichts der folgenden Arbeiten aus den 1990er Jahren nicht von einem Bruch – oder „Umbruch“ wie Richter sagt – gesprochen werden kann. Zwar haben nachweislich die andersartige geologische Struktur, das Klima und die Atmosphäre, vor allem das Licht, ebenso die historischen Umstände jenes geographischen Raumes, der ab 1992 das Interesse Roland Richters gefesselt und bestimmend auf die Werke eingewirkt hat – gemeint sind die Hügellandschaften der Toskana in Italien. Aber letztlich haben sie nur unterstützt und verstärkt, was längst angelegt gewesen ist.

Die italienischen Motive fand der Künstler überwiegend in zentralen und südlichen Regionen der Toskana um Siena und Grosseto mit Ortschaften wie Ciciano, Tatti oder Massa Marittima und in den kahlen, kaum bewachsenen Hügeln der Crete, von denen der Regen das Erdreich wegspülte und das Land zerschluchtete, „terra crete“, das heißt zu deutsch „gesiebte Erde“ – eigentlich Staub. Vor allem aber gewann seitdem das optische und gefühlsmäßige Erlebnis einer Landschaft für sein Schaffen eine entscheidende Bedeutung. Nach den Hügeln der Toskana mit ihrem oft verschleiert wirkenden Blau bestimmte die lichte Farbigkeit und Bläue des Himmels die Motive aus der Provence Frankreichs in der Region Provence-Alpes-Cộte d´Azur im Departement Vaucluse mit Gordes, Murs, Vaugines, Roussillon, den steilabfallenden Kreidefelsen bei Lioux oder den Lavendelfeldern um Senanque und Luberon. Die streng gebauten Stadtlandschaften hingegen ähneln bühnenhaften Prospekten. Sie scheinen in der Stille des Mittags zu reihen, auch sie halten Siesta sind daher menschenleer.

Ein letztes Wort zur Erklärung eines zunächst unverständlich erscheinenden Bildtitels: „Interradisiena 170998“ lautet er und gehört ebenfalls zu einem Landschaftsbild aus der Toskana. Das Bild ist radikal auf Strukturen reduziert, Reduktion jedoch auch hinsichtlich der Farben, nur Ocker in gelbbräunlichen und rötlichen Farbtönen, dazu sparsam Grün und Grau, keine Mischtöne. Es handelt sich um Erdfarben, zu finden in der Toskana – „terra di Siena“ – Erde aus Siena – und ebenso um Roussillon im Süden Frankreichs, grenzend an die Provence mit seinen Ockerfelsen und Lavendelfeldern. Das Material wird in einer Leim- oder einer Ei-Tempera-Emulsion gebunden und mit schwarzer und weißer Dispersionsfarbe vorwiegend auf bewusst gewähltem billigen Papier vermalt.

Für den Künstler war die Verwendung von Erden neben der Stillung einer Sehnsucht nach dem „Einfachen und Elementarem ... [der] notwendige Ausgleich und Gegenpol zur Kompliziertheit [immateriellen Bilder] der modernen Hochleistungstechnologie elektronischer Bildaufzeichnung“ – wie er selbst bekennt und hinzufügt: „eine solche Konkurrenz mit traditionellen bildnerischen Mitteln bestehen zu wollen, ... um ... Ähnliches zu erreichen, kann nur als ein sinnloses, überflüssiges und in höchstem Maße albernes Unterfangen bezeichnet werden ... alles Streben nach äußerlicher Perfektion [ist] schon im Ansatz verheerend.“

Darum wählte er das Zitat Dürers als Titel seiner Ausstellung – was Sie jetzt wohl verstehen werden.