Ein anderer werden und doch derselbe bleiben

Günther Regel

Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der Leipziger Galerie „Wort und Werk“
am 20. Juli 1989, veröffentlicht in KUNST+UNTERRICHT 142/1990 Nr.51

Hier an diesem Orte habe ich selten eine Ausstellung von Bildern gesehen, die so erfüllt waren von puren Form- und Farbklängen, von visuellen Rhythmen, Spannungsbeziehungen und sorgsam austarierten Gleichgewichtsverhältnissen wie diese. Bilder, die zwar nicht gänzlich, aber weitgehend auf die Abbildung der sichtbaren Welt der Dinge verzichten und doch so viel sagen über unsere Wirklichkeit, über wichtige Seiten unserer inneren Welt nämlich. Bilder, die mindestens für diejenigen zu sprechen beginnen, die sich den vom Alltag erzwungenen, rational ausgerichteten Sehgewohnheiten vorübergehend zu entziehen und kunstgemäß zu schauen vermögen. Eine schöne Ausstellung, die selbst diesem tristen Raum ein wenig Glanz zu verleihen vermag.

Wer Roland Richters frühere bildnerische Arbeiten, die oft durch ihre perfekte Porträtähnlichkeit verblüfften, kennt, seine Entwicklung in den letzten zwei, drei Jahren aber nicht verfolgen konnte, der mag beim ersten Anblick seinen Augen nicht trauen wollen: Das ist ja ein ganz neuer Richter, nicht wiederzuerkennen! Oder ... ? Oder muß man nur eingehender hinschauen, um den alten Roland Richter wiederzufinden unter all den Verwandlungen, die seine Bildsprache durchgemacht hat in letzter Zeit?

Umbrüche in der Entwicklung eines Künstlers, die sich im Wechsel seiner Gestaltungsweise anzeigen und in den Stilmerkmalen seiner Werke manifestieren, sind nicht selten in unserem Jahrhundert. Das hängt mit der ganz aus dem Lot geratenen, verrückten Welt zusammen. Problematisch sind sie allemal. Man muß da nicht einmal auf die ganz Großen verweisen, auf Kandinsky oder Malewitsch beispielsweise. Manche wechselten ihre Gestaltungsweise und ihren Stil so jedenfalls schien es, von außen betrachtet wie ihre Hemden, Pablo Picasso etwa oder Gerhard Richter oder Penck. Auch in unserer Kunstszene kennen wir dergleichen Vorgänge.

Bei manch einem sind es sehr oberflächliche, fragwürdige und leicht durchschaubare Gründe, kühl kalkuliert nicht selten, die zu solch einem Wandel Anlaß gaben. Andere aber vermögen nicht zu sagen, warum sich ihre Gestaltungsweise und damit auch ihr Stil verändert haben. Und je weniger sie es wissen, je überraschter sie selbst waren von dem, was da vor sich gegangen ist in der Art und Weise ihrer Kunstproduktion, desto größer war offenbar die innere Notwendigkeit, die sie dazu zwang: der Drang, sich selbst, seine künstlerische Identität zu finden oder wiederzufinden. Daß dieser sich zunächst wenn er echt ist notwendigerweise intuitiv vollziehende Vorgang im Nachhinein von dem einen oder anderen Künstler theoretisch reflektiert und fürderhin sehr bewußt ins Kalkül gezogen wird, braucht durchaus kein Nachteil zu sein, zumal bei denen, die auch theoretisch interessiert und gewohnt sind, ihr Tun und Lassen der Kontrolle durch die Vernunft zu unterziehen, vorausgesetzt freilich, sie sind in der Lage, sich die Intuition nicht durch begriffliches Denken versperren zu lassen.

Gleichwohl, der Künstler muß den Wandel seiner Gestaltungsweise weder erklären noch begründen können. Das ist vielmehr eine Aufgabe für den Kunstwissenschaftler. Ich allerdings hüte mich mit Bedacht, der Versuchung zu erliegen, den Umbruch im Schaffen von Roland Richter heute schon zu deuten, zu interpretieren versuchen. Statt dessen will ich Sie einladen nachzuvollziehen, wie mir ganz persönlich dieser Wandel zu einer Herausforderung wurde. (Sie wollen mir bitte verzeihen, daß ich von mir spreche, in Wahrheit geht es natürlich um Roland Richter, um seine Kunst und Kunstentwicklung, mit der wir konfrontiert sind und zu der wir, jeder für sich, Zugang suchen und zu finden hoffen.)

Am besten vielleicht, wenn ich eine längere Passage aus einem Brief zitiere, den ich ihm nach einem Atelierbesuch schrieb: „Du fragst mich, was ich von Deinen neuen Arbeiten halte, die so anders sind als alles, was man von Dir kennt – und ich bin Dir eine Antwort schuldig geblieben, jedenfalls eine, die Dich hätte einigermaßen zufriedenstellen können, die tiefer gegangen und mehr gewesen wäre, als eine bloße Gefallensäußerung. Dazu aber war ich nicht gleich fähig, und ein Ausweichen ins „Technische“, das wollte ich Dir und mir nicht zumuten. Denn, so empfand ich die Situation jedenfalls, da mußte ja nicht nur auf die neuen Blätter reagiert werden, da war auch auszuforschen und zu bedenken: ob und wie das Neue mit dem Alten zusammengeht und was daraus möglich werden und sich entwickeln könnte? Ob dieser doch ziemlich heftig anmutende Wandel ein Bruch ist in Deinem künstlerischen Werdegang oder die Fortentwicklung von etwas, das früher im Keim schon da war? Ob eine innere Notwendigkeit vorliegt für diesen Umschwung – wenn es denn überhaupt einer war -, eine, die tief erlebt und schon ins Innerste der Formensprache eingegangen ist, die tragfähig sein oder werden kann über diese Tage einer, vielleicht durch mancherlei äußere Umstände hervorgerufenen, Dich belastenden Stimmungslage hinaus? Alles Fragen, die Dir keiner beantworten kann!

Ich las gerade bei Rilke, was der einem angehenden Poeten schrieb, der dabei war, seine eigene Art künstlerischer Äußerung zu suchen. Nun bist Du zwar kein Dichter, und schon gar kein junger, unerfahrener. Du hast Deine „Art“, Dich bildnerisch zu äußern, längst gefunden, bist aber offenbar seit einiger Zeit damit befaßt, in Dich hineinzuhorchen und zu prüfen, ob Deine bisherige Gestaltungsweise Deinem Weltempfinden, Deiner Zeit- und Weltbefindlichkeit noch entspricht oder ob sie sich verwandeln müßte, wenn sie wieder ganz die Deine sein oder werden soll. Und da könnten Rilkes Worte, denke ich, eine gewisse Katalysatorfunktion erfüllen: „Sie fragen, ob Ihre Verse gut sind. Sie fragen mich. Sie haben vorher andere gefragt ... Sie vergleichen sie mit anderen Gedichten und Sie beunruhigen sich, wenn gewisse Redaktionen Ihre Versuche ablehnen. Nun (da Sie mir gestattet haben, Ihnen zu raten) bitte ich Sie, das alles aufzugeben. Sie sehen nach außen, und das vor allem dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand.“

Was soll ich da noch sagen? Ich kann mich nur behutsam zu äußern versuchen über das, was mir an diesem Abend bei meinen wiederholten Erkundungsgängen in Dein Atelier aufgefallen ist: an Deinen Arbeiten, aber auch an mir selbst, an meinen Reaktionen, meinen intuitiven Antworten auf die Herausforderungen durch das „Neuland“, das sich mir dort auftat.

Da ging oft der Blick von Deinen neuen Blättern – die ich im großen und ganzen beeindruckend finde, einzelne ausnehmend schön und dicht, und trotz der bescheidenen Formate zu gewichtig, als daß man sie lediglich als beiläufige Versuche betrachten könnte, wozu Du womöglich neigen magst, vielleicht um das eigene „Erschrecken“ vor Deiner kühnen Unternehmung zu mildern oder auch, um einen allzugroßen Anspruch herunterzuspielen –, da ging der Blick von den neuen Blättern zu den „alten“ Bildern, die ich ganz gut kenne, zum Beispiel zu der schönen, herben Landschaft gegenüber der Eingangstür, die als Bildorganismus so überzeugend funktioniert.

Es muß schon gewichtige Gründe geben, ungewußte vermutlich, dachte ich mir, wenn Du Dich gedrängt fühlst, diese Gestaltungsweise aufzugeben. Wer gibt schon ohne Not etwas auf, das zu solchen Resultaten führte!

Dann wieder die neuen Arbeiten! Manche hätte ich herausheben und unter ein nicht zu kleines Passepartout bringen mögen. Die können und wollen für sich betrachtet werden. Andere werden vermutlich reicher in einer Folge. Da wurde in der Variation der Blätter die Dir selbst auferlegte formale Beschränkung besonders deutlich, die wohl nötig ist – bei solch einer Gestaltungsweise besonders –, damit die Formen und Farben fast wie von selbst „kommen“, überraschende Wirkungen hervorbringen und sich allmählich als Transporteure von Inhalten erweisen können. Bei wieder anderen empfand ich, daß zwei oder drei zusammengehörten und dicht beieinander stehen müßten, wie bei einem mehrteiligen Bild. Manches Blatt lebt gewiß sehr von seinem kleinen Format, andere könnte man sich bedeutend größer vorstellen, wenn auch freilich nicht einfach ins Große übertragen.

Schließlich fragte ich mich, was wohl den Eindruck entstehen läßt, es handele sich um etwas ganz Neues in Deiner Malweise? Was tatsächlich im ersten Moment an einen regelrechten Bruch mit Deiner bisherigen Gestaltungsweise denken läßt, das ist der völlige Verzicht auf den Gegenstand, der ja sonst eine maßgebliche Rolle spielte und Dir immer wichtig war für die Realisierung Deiner Aussage. Die Behandlung der anderen Bereiche der Form ist auch anders als früher, aber doch nicht so tiefgreifend. In dieser Beziehung findet man in den früheren Arbeiten, vor allem in den gelegentlich entstandenen, manches, was man in den neuen fortgeführt sieht und durchaus als kontinuierlich weiterentwickelt begreifen kann.

Ist das alles nun, was Du in letzter Zeit an Neuem hervorgebracht hast, ein „Zwischenspiel“, ein betörend schönes, oder ist das der Anfang eines Neubeginns? Könnte es nicht auch ein forcierter Versuch sein, sich stärker auf die Wirkungsmöglichkeiten der außerhalb des Gegenstandes liegenden Komponenten der Form zu besinnen – die Du ja doch glänzend ins Spiel und wohl auch bald zum Sprechen zu bringen vermagst – um dann wieder, solchermaßen bereichert und „aufgeladen“, zum Gegenstand zurückzufinden?

Wer weiß da schon, wo die Reise hingehen wird. Und wenn Du selbst dies nicht sagen könntest, wäre das nur „normal“, verständlich jedenfalls für den, der eine Ahnung hat von den wunderlichen Vorgängen, die sich beim Finden des Eigenen nun einmal abspielen. Da hilft wohl nur, Rilkes Rat zu befolgen: „Sie können sich gar nicht heftiger stören, als wenn Sie nach außen sehen und von außen Antwort erwarten auf Fragen, die nur ihr innerstes Gefühl in Ihrer leisesten Stunde vielleicht beantworten kann.“ Ich bin ganz sicher, diese Antwort wird sich Dir bald auftun. Auf gutes Gelingen!“

Das schrieb ich vor reichlich zweieinhalb Jahren. Inzwischen hat es sich erwiesen: es war dies seinerzeit tatsächlich der Beginn eines tiefgreifenden Umbruchs. Die zögernden Versuche von damals waren keine Episode. Die zeitweilige Enge gezwungen und treuherzig anzuschauen wie mir das nur irgend möglich war. Einem Rate von Paul Klee folgend, betrachtete ich die Bilder so, wie ich mir angewöhnt hatte, Musik zu hören: nicht nach äußerlichen Ähnlichkeiten mit der Natur, nach irgendwelchen dargestellten Gegenständen zu fahnden, nicht auszusein auf das Erkennen von Ideen und Gedanken, von großen Themen und diesen oder jenen Ansichten über Gott und die Welt, die ich illustriert fände, auch nicht nach verwirklichten angeblich formalen Kunstgesetzen zu suchen. Ich überließ mich nicht ganz einfach, diese Absicht durchzuhalten – der Wirkung, die von den Formen und Farben und von deren Anordnung ausging ...

So spürte, so empfand und begriff ich schließlich, daß es sich mit diesen Bildwerken so verhalt wie mit jedem vollkommenen, gut funktionierenden Organismus: alles greift ineinander, jedes Detail, der leiseste Farbton, der kleinste Farbfleck, der unscheinbarste Strich ... Alles und jedes trägt zum Ganzen bei und gewinnt von diesem Ganzen her seinen Stellenwert und seinen Sinn. Eine ganz und gar intakte Bild weit, die man sehr wohl als Sinnbild für den durchgängigen universellen Zusammenhang aller Dinge und Prozesse auffassen kann, der unsere Welt durchwaltet.

Eine heile Bildwelt jenseits der Realität also? Abgehoben, unberührt von der wirklichen Welt, in der wir heute leben, in der Zerstörung herrscht, Hunger und Mangel an sozialer Gerechtigkeit, in der die Mißachtung der Rechte der Andersdenkenden gang und gäbe ist, in der es Aus- und Abgrenzungen in Menge, gibt, in der die Menschheit, wie noch nie zuvor, auf vielfache, letztlich selbst verursachte Weise existentiell bedroht ist? Eine heile Kunstwelt, die sich dieser brutalen gegenwärtigen Realität verschließt?

Ich kann das nicht so sehen! Für mich spricht aus diesen Bildern auch und vor allem eine große Sehnsucht, ein starkes Verlangen nach einer anderen Welt, nach einem anderen Zustand unserer in Unordnung geratenen, von uns Menschen arg zugerichteten Welt; ein Sehnen, das gar nicht stark genug sein kann, wenn es zu einem als Not empfundenen Bedürfnis werden soll, wenn es daran hindern soll, uns an die Gegebenheiten zu gewöhnen, uns abzufinden mit den Verhältnissen. Und so kann ich dem Maler, Dir, lieber Roland, nur herzlich Dank sagen für diese schöne und in dem angedeuteten Sinne durchaus in unserer Zeit passende, ja notwendige Ausstellung, hoffend, daß viele Besucher eine ähnliche Erfahrung machen mögen mit Deinen Bildern.